Eklat kurz vor Schluss: Den Linken geht es offensichtlich zu gut

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Eigentlich sollte es ein Parteitag der Harmonie werden, und über weite Strecken war es das auch. Aber die alten Konflikte blitzen immer wieder auf: Antisemitismus und Israel, Rüstung und Russland. Selbst das Regieren ist nicht für alle Linke selbstverständlich.

Am Ende des Linken-Parteitags in Chemnitz steht eine klare Niederlage für die Parteispitze. Ein Antrag, gegen den sich Parteichef Jan van Aken ausdrücklich gestellt hatte, findet in der Nachspielzeit des Treffens trotzdem eine knappe Mehrheit: 213 Delegierte votieren für einen Beschluss, mit dem die Linke sich offiziell hinter die sogenannte Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus stellt.

Was unspektakulär klingt, ist ein Eklat, auch wenn das in der Hektik des Parteitags nicht so wirkt. "Ein fataler Beschluss", kommentiert die Thüringer Landtagsabgeordnete der Linken, Katharina König, bei Bluesky. Damit habe die Mehrheit entschieden, "dass die Linke nicht mehr für #gegenjedenAntisemitismus steht".

Die Jerusalemer Erklärung ist umstritten, nicht ohne Grund hatte van Aken sich gegen den Antrag gestellt. Es gibt Experten, die in dieser Erklärung eine Verharmlosung des Antisemitismus sehen. Das weisen die Antragsteller von sich. Sie sind vor allem sauer, dass ihr Antrag sang- und klanglos in die Gremien überwiesen werden sollte - zum wiederholten Male.

Nur 183 Delegierte folgen van Aken

Van Aken argumentiert, beim Parteitag in Halle habe die Linke im vergangenen Jahr doch einen guten Kompromiss gefunden. Bei diesem - mühsam ausgehandelten - Beschluss ging es um die Positionierung im Nahost-Konflikt. Das reicht den Antragstellern nicht. Man müsse "inhaltliche Klarheit schaffen, um falsche, denunziatorische Anschuldigungen" gegen die Linke zurückweisen zu können, sagt einer von ihnen.

Jan van Aken hält die kurze Gegenrede, eine wirkliche Diskussion gibt es nicht, dafür würde die Zeit auch gar nicht reichen. "Ich bin dagegen, dass wir qua Parteitagsbeschluss eine wissenschaftliche Debatte beenden, das können wir nicht tun." Viel intensiver steigt er in die Diskussion nicht ein.

Die Linken-Europaabgeordnete Özlem Demirel-Böhlke hält van Aken vehement entgegen, eine solche wissenschaftliche Debatte gebe es gar nicht, nur zwei konkurrierende Definitionen: die Jerusalemer Erklärung und die der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Demirel-Böhlke sagt, auf der Basis der IHRA könne jede Kritik an der israelischen Regierung als Antisemitismus diffamiert werden. Das ist umstritten, aber sie erhält dafür starken Beifall. In der digitalen Abstimmung folgen 183 Delegierte van Akens Appell - zu wenig. 40 enthalten sich. Dutzende Delegierte sind zu diesem Zeitpunkt nicht mehr anwesend.

Geht es um Definitionen oder um Kooperation?

Die Debatte ist der Höhepunkt einer unterschwelligen Diskussion, die den gesamten Parteitag durchzogen hat. Mehrere Delegierte tragen in Chemnitz eine Kufiya, um ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk auszudrücken, wie sie es formulieren.

Mehrere Delegierte zeigen sich mit Pali-Tuch auf dem Parteitag. Mehrere Delegierte zeigen sich mit Pali-Tuch auf dem Parteitag.

Mehrere Delegierte zeigen sich mit Pali-Tuch auf dem Parteitag.

(Foto: picture alliance/dpa)

Nicht nur Katharina König, auch andere Linke zeigen sich auf Bluesky entsetzt. Es gehe bei dem Beschluss nicht um Definitionen, schreibt die ehemalige Bundestagsabgeordnete Martina Renner, "sondern darum, Personen und Gruppen vom Antisemitismus-Vorwurf freisprechen zu können, um weiter kooperieren zu können". Tatsächlich enthält die Jerusalemer Erklärung keinen Hinweis darauf, dass es antisemitisch ist, das Existenzrecht Israels zu leugnen.

Der Streit um den Umgang mit Israel und dem Nahost-Konflikt wird in der Partei schon lange geführt, und immer stärker mit Schlagseite gegen Israel. Mehrere prominente Mitglieder hat die Linke darüber bereits verloren, darunter den früheren Berliner Kultursenator Klaus Lederer. Er dürfte wenig Grund zur Rückkehr sehen: Am Dienstag hatte das Linken-Bundesvorstandsmitglied Ulrike Eifler auf X eine Karte von Israel, Gaza und dem Westjordanland gepostet, auf der die Grenzen von Israel nicht zu erkennen waren. Zwei Tage später distanzierte sich der Parteivorstand "von jedem Aufruf, jedem Statement und jedweder bildlichen Darstellung, die unter dem Deckmantel der Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung die Existenz Israels negiert oder die Auslöschung Israels propagiert". (Mehr dazu hier.)

Mehrheit für Kompromiss-Papier zu Nahost

In Chemnitz hatte der Parteivorstand bereits einen Nahost-Antrag ausgehandelt, mit dem die Gemüter eigentlich beruhigt werden sollten. Darin wird der Vorwurf, Israel verübe im Gazastreifen einen Genozid, nur zitiert, nicht aber ausdrücklich selbst erhoben.

"Die israelische Regierung und ihre Handlanger müssen zur Rechenschaft gezogen werden", sagt die Delegierte Hana Qetinaj aus Frankfurt am Main, eine der Antragstellerinnen, in dieser Debatte. Die Linke habe in dieser Frage an Glaubwürdigkeit verloren, beklagt sie. "Ein falsches Relativieren während eines Genozids wird dem, was dort geschieht, nicht gerecht." Mit dem Segen des Parteivorstands erhält das Papier eine deutliche Mehrheit.

Immer wieder die alten Streitpunkte

Das Verhältnis zu Israel und der Streit um die Antisemitismus-Definition waren nur zwei Aspekte des linken Dauerstreits, die in Chemnitz aufblitzten. Eigentlich sollte es ein Parteitag der Harmonie werden, und über weite Strecken war es das auch. Die Delegierten feierten ihr Comeback bei der Bundestagswahl und versicherten einander, dass die Erfolgsserie bei den Wahlen im nächsten Jahr anhalten solle.

"Der erste linke Bürgermeister für Berlin, das ist doch mal ein Ziel", rief Fraktionschefin Heidi Reichinnek in ihrer Rede am Freitag. Sie zählte all die anstehenden Wahlen auf: im September Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen, im März 2026 Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. In beiden Bundesländern war die Linke noch nie im Parlament, die Parteiführung hofft, dass sich das ändert. Auch in Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern stehen im kommenden Jahr Landtagswahlen an.

"Ein System, das wir ablehnen"

Aber den Linken geht es offenbar zu gut, um auf Konflikte verzichten zu können. Bei den anderen Streitpunkten geht es um das Verhältnis zur Macht, um Verteidigungspolitik und, damit verbunden, das Verhältnis zu Russland. Eine hessische Delegierte sagte in der Debatte am Freitagabend, sie erlebe in Teilen der Partei "ein notorisches Festhalten an Glaubenssätzen, die sich immer weiter von der Realität entfernen". Das betreffe vor allem Fragen von Krieg und Frieden. "Dabei wird ausgeblendet, dass der vielfache Ruf nach Aufrüstung einen realen Anlass hat, nämlich den russischen Überfall auf die Ukraine."

Mehrheitsfähig sind solche Positionen bei den Linken bei Weitem nicht, aber es war schon überraschend, dass sie überhaupt offen geäußert wurden. Einhellig sprach sich der Parteitag am Samstag gegen eine Wiedereinführung der Wehrpflicht "und andere Zwangsdienste" aus.

Viel Beifall erhielt ein Antrag, der einen Rücktritt der Ministerinnen und Senatorinnen der Linken in den Landesregierungen von Bremen und Mecklenburg-Vorpommern forderte. "Wir sind unserer Klasse und den Menschen verantwortlich und haben keine Verantwortung gegenüber einem System, das wir ablehnen", sagte einer der Antragsteller zur Begründung. Dahinter steckt die Ablehnung von "Kriegskrediten"; mehrere Redner zogen mit diesem Begriff eine Parallele zu 1914. Aber auch die generelle Ablehnung von Regierungsbeteiligungen "unter den Bedingungen des Kapitalismus" scheint bei diesen Ansichten durch - eine Stimmung, der wohl nur eine Minderheit anhängt. Aber es gibt sie, und sie ist deutlich hörbar.

Über dem Erfolg steht ein Fragezeichen

Bei dem Antrag gegen die Landesverbände von Bremen und Mecklenburg-Vorpommern hielt Parteichefin Ines Schwerdtner die Gegenrede. "Lieber Genosse, ich geb' dir in allem, was du gesagt hast, inhaltlich recht." Sie argumentierte formal: Im Leitantrag sei ja schon beschlossen worden, dass es zu einem solchen Fall nicht mehr kommen dürfe. Den Parteitag rief Schwerdtner auf, er solle "kein Exempel statuieren". Dieser Antrag wurde mit 219 zu 192 Stimmen bei 39 Enthaltungen abgelehnt.

Am Ende wurden all die Dauerkonflikte vom Erfolg überlagert, man könnte auch sagen: zugekleistert. Zuverlässigen Beifall gab es grundsätzlich für die bekannten Parolen. Eine Weile wird das sicherlich noch funktionieren. Vor allem die vielen Neumitglieder dürften sich vorläufig nicht dafür interessieren, die alten Streitfragen zu klären. Aber auf Dauer? Über dem Erfolg der Linken steht ein Fragezeichen.

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