
Beim Fernsehduell zeigt sich Trumps Vizekandidat Vance verbindlich und sattelfest, Tim Walz benötigt Anlaufzeit - verweist den Republikaner aber in sozialen Fragen in dessen Schranken. Etwas überraschend: In der US-Politik gibt es noch sachliche Debatten.
Tim Walz stolpert. Die Moderatorinnen haben den Vizekandidaten von Kamala Harris mit ihrer Einstiegsfrage kalt erwischt: Würde er einen präemptiven Militärschlag gegen Iran empfehlen, wenn er im Weißen Haus säße? Der Demokrat kämpft sich durch seine Antwort, die so richtig keine ist. Sein Gegner J.D. Vance surft kurz darauf auf derselben Frage im Plauderton ins Fernsehduell der Vizekandidaten. Der Senator zeigt von Anfang an, warum Donald Trump sich überzeugen ließ, ihn an seine Seite zu nehmen. So wird Vance bis zum Ende der mehr als eineinhalb Stunden weitermachen: selbstsicher, unbeirrt, mögliche Seeminen umschiffend.
Die beiden duellieren sich an diesem Abend in New York nur indirekt für sich selbst, sondern insbesondere für die Präsidentschaftskandidaten, mit denen sie am 5. November die Wahl gewinnen wollen. Harris hatte Trump in deren Duell gegen die Fernsehwand debattiert und liegt in Umfragen leicht vor dem Republikaner. Ein weiteres Aufeinandertreffen lehnte er ab. Die große Frage unter Demokraten war: Kann Walz in den entscheidenden Bundesstaaten, etwa im westlichen Pennsylvania, das zum Rostgürtel zählt, punkten? Ohne einen Sieg in dem Bundesstaat wird es wesentlich schwieriger für Kamala Harris, ihren Kontrahenten zu schlagen.
Nach dem Iran und seinem Angriff auf Israel sprechen die Moderatorinnen das zweite große Thema an: die Toten und vom Hurrikan Helene hinterlassene Verwüstung in mehreren Bundesstaaten; was zur Diskussion über den Klimawandel wird. Vance sagt, die Jobs aus der schmutzigen Produktion in China müssten in die sauberere in den USA zurückgeholt werden, um weniger CO2 zu erzeugen. Walz hält ihm entgegen, dass Trump den Klimawandel als Schwindel bezeichnet und dann gesagt habe, dass dadurch mehr Strandgrundstücke entstünden.
Wie soll das mit dem Haushaltsdefizit funktionieren?
Beide Vizekandidaten sollen sich zu den Wirtschaftsplänen erklären: Harris' Vorschläge zu Steuernachlässen auf Unternehmen und für mehr Wohnraum würden das Defizit um 1,2 Billionen US-Dollar erhöhen, Trumps Steuersenkungen und weitere Vorhaben um 5,8 Billionen US-Dollar, so die Moderatorinnen. Walz verweist in seiner Antwort auf eine geplante "gerechte" Reichensteuer und auf Experten, Vance eiert ein wenig herum und entgegnet, diese Experten hätten auch empfohlen, amerikanische Jobs nach Übersee zu verlagern; das ist für ihn persönlich, hier glänzt er. Später wird Vance sagen, die Pläne würden mit Zöllen auf Importe aus China und anderswo finanziert, da sie "Sklavenarbeiter" beschäftigten und damit die Löhne für US-Amerikaner drückten. Solche Länder sowie Unternehmen, die Jobs aus den USA abzögen, müssten bestraft werden.
Vance gegen Walz, das ist auch ein Duell der unterschiedlichen Vorstellungen davon, was der Mittlere Westen der USA bedeutet. In den zwölf Bundesstaaten der Region wird die Präsidentschaftswahl mit entschieden: Michigan und Wisconsin gehören dazu und sind ein Schlüssel zum Weißen Haus. Wer diese beiden battleground states gewinnt, steht schon fast vor der Tür. Walz spricht von Chancen und der Zukunft, einer "Politik der Freude", Vance von Versäumnissen und Dingen, die verloren gegangen sind.
Am Tag des TV-Duells veröffentlichte Trumps Wahlkampfteam einen gefühligen Werbeclip mit Vance' Stimme der Vernunft, des Verständnisses. "Viele Menschen fühlen, dass wenn man hart arbeitet und sich an die Regeln hält, es ein wenig schwieriger ist, voranzukommen", erzählt der Vizekandidat über den Klangteppich eines Klaviers. In seinem Heimatort der 1990er Jahre hätten viele nicht mehr erwartet, dass die Zukunft besser würde als die Vergangenheit. "Dies ist einzigartig und tragisch." Er stellt sich als derjenige dar, der Weiße Arbeiter vertritt, keiner "aus dem DC-Sumpf".
Der Republikaner ist von seiner Kindheit und Jugend in Ohio geprägt, wo die Globalisierung viele Arbeiter die Jobs kostete. Die weißen Arbeiter im Rostgürtel, der sich über viele Bundesstaaten erstreckt und die Trump 2016 mit seinen Attacken auf die "Elite" in Washington überzeugte. Vance ist erst seit wenigen Jahren in der Politik, Walz hingegen seit fast zwei Jahrzehnten. Zwölf Jahre lang war er Abgeordneter im Kongress, seit fast sechs Jahren ist er Gouverneur von Minnesota; den landwirtschaftlich geprägten Bundesstaat stellt er als familienfreundlich, arbeitsam und sozial dar.
Vance: Mit einer Million Abschiebungen anfangen
Vance zeigt sich zwar als anständiger, vernünftiger Kandidat, nicht als Lautsprecher. Doch er kündigt an, nach einem Wahlsieg zunächst eine Million Einwanderer abzuschieben, die kriminell seien. Er macht Harris für die "historische Einwanderungskrise" im Land verantwortlich und deklariert sie zur Ursache für eine Vielzahl an Problemen: Sie habe die Drogenkrise verstärkt, illegale Einwanderer schleusten Unmengen des tödlichen Opioids Fentanyl ins Land, die Krankenhäuser seien überlastet und die amerikanische Bevölkerung müsse mit Millionen illegaler Einwanderer um den ohnehin schon knappen Wohnraum konkurrieren.
Walz wirft seinem Kontrahenten vor, Unschuldige zu verunglimpfen. Er verteufele mit seinen Behauptungen eine Vielzahl an Menschen, die auf legalem Wege in die USA einreisen, meint Walz, man dürfe Migranten nicht für alles verantwortlich machen. Was den Wohnraum angeht, sollten vielmehr Wall-Street-Spekulanten in den Blick genommen werden, die Immobilien aufkauften und die Preise damit in die Höhe trieben. Als es immer hitziger wird, Vance den Moderatorinnen vehement über den Mund fährt und auch Walz sich nicht lumpen lassen will, kühlen sie die beiden herunter, indem sie ihnen einfach die Mikrofone abdrehen.
Der Trumpf der Demokraten ist der Konflikt über das Abtreibungsrecht. Unter Wählerinnen bis 45 Jahre ist es für ihre Stimme entscheidend. Eine Mehrheit von ihnen unterstützt Harris, weil diese Schwangerschaftsabbrüche garantieren will. Vance nimmt Walz mit einem Eingeständnis zunächst den Wind aus den Segeln. "Ich weiß, dass viele Amerikaner nicht mit allem einverstanden sind, was ich je zu diesem Thema gesagt habe", sagt der Republikaner, und wirft dem Demokraten eine radikale "Pro-Abtreibung"-Haltung vor. Es sei zudem richtig, die Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen den einzelnen Bundesstaaten zu überlassen.
Walz bei sozialen Themen stark
Je länger die Debatte dauert, desto sicherer wird Walz. Das hat auch damit zu tun, dass die sozialen Themen zum Ende hin an der Reihe sind: Bei der Krankenversicherung debattiert er Vance an die Wand, bei Abtreibungen zieht Vance mit einem Eingeständnis, die Republikaner müssten Vertrauen zurückgewinnen, ein wenig den Kopf aus der Schlinge, aber auch dort argumentiert der Demokrat eindrücklich: "Es geht bei dieser Sache nicht um Bundesstaaten, sondern um Frauen", kontert Walz. Demokraten seien nicht pro Abtreibung, sondern für die Wahlmöglichkeit: "Wir sind pro Freiheit." Er untermalt seine Argumente mit persönlichen Geschichten, etwa von Amber Thurman, die an den Folgen eines missglückten Schwangerschaftsabbruchs verstarb, da sie für die notwendige medizinische Versorgung knapp 1000 Kilometer in einen anderen Bundesstaat hatte reisen müssen.
Auch wenn in vergangenen Wahljahren die Debatten der Vizekandidaten praktisch keine nachweisbaren Auswirkungen auf die Umfragen hatten: Das Duell ist Werbung für eine politische Auseinandersetzung nach früheren Regeln. Zum Ende hin scheinen Walz und Vance sich geradezu sympathisch zu finden, sprechen sich ihr Mitgefühl aus oder betonen Gemeinsamkeiten. Die Dutzenden Millionen Zuschauer in den USA sehen das offenbar positiv: Überwältigende 88 Prozent sagen, sie hätten die Debatte so empfunden. Einen Gewinner sahen sie nicht. Noch nicht.