Kanzler im zweiten Anlauf: In Merz' Wahl-Debakel steckt auch eine Chance

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Es ist schon wieder passiert: Friedrich Merz hat eine politische Situation falsch eingeschätzt - und ist im ersten Wahlgang brutal gegen die Wand gelaufen. Dass dieser ständige Irrläufer nun Bundeskanzler ist, muss Sorgen bereiten. Aber Stehaufmännchen Merz könnte die niedrigen Erwartungen an ihn für sich nutzen.

Rund 20 Jahre nach seiner Niederlage gegen Angela Merkel, nach einer erst im dritten Anlauf geglückten Kandidatur für den CDU-Vorsitz und einer um mehrere Stunden verzögerten Wahl zum Kanzler ist Friedrich Merz am Ziel. Er ist Deutschlands neuer Regierungschef. Die Wahl selbst geriet erst zu einem Debakel, Merz selbst entging nur knapp einer Vollkatastrophe. Wer weiß schon, welche Dynamiken es ausgelöst hätte, wäre der zweite Wahlgang nicht noch am selben Tag wiederholt worden. Die Schmach, im ersten Wahlgang mindestens 18 Stimmen aus den Koalitionsfraktionen nicht bekommen zu haben, wird bleiben. Doch wie das politische Leben so spielt, birgt auch die Niederlage im ersten Wahlgang eine Chance. Wer wüsste das besser als das fast zwei Meter lange Stehaufmännchen aus Brilon?

Merz ist der erste Bundeskanzler, der erst im zweiten Wahlgang gewählt wurde. Dass er von dem Groll einiger Abgeordneter so kalt erwischt wurde, reiht sich ein in eine lange Liste von Fehleinschätzungen des 70-jährigen Sauerländers. Bei seiner ersten Kandidatur für den CDU-Vorsitz hatte er sich schon als sicherer Sieger gefühlt und seine Konkurrentin Annegret Kramp-Karrenbauer kurz vor der Abstimmung fatal unterschätzt. In seiner Zeit als Oppositionsführer stellte er zwar die CDU neu auf und ordnete das Verhältnis zur Schwesterpartei CSU. Merz verpasste es darüber aber, sich Sympathien beim Wahlvolk zu erwerben. Nie konnte sich Merz positiv absetzen vom so unbeliebten Kanzler Olaf Scholz.

Immer wieder überraschend in der Defensive

Die Bundestagswahlkampagne misslang ihm ebenfalls, als Merz in Folge der Anschläge in Aschaffenburg und Magdeburg - mutmaßlich von ehrlicher Empörung getrieben - die Migration in den Fokus stellte. Dabei war ausweislich der Umfragen den Menschen weiter die wirtschaftliche Entwicklung das wichtigste Thema. Merz aber steigerte sich in einen regelrechten Furor und strengte eine Abstimmung an, an deren Ende Union und AfD gemeinsam für einen Entschließungsantrag stimmten. Als beide Fraktionen beinahe noch gemeinsam ein Gesetz verabschiedeten, gingen dem Unionsfraktionschef einige der eigenen Abgeordneten von der Fahne. Merz' Gesetzentwurf scheiterte.

Was bei diesen Abstimmungen aber wirklich zu Bruch gegangen war, ist das Vertrauen von SPD und Grünen sowie deren Wählern in die demokratische Grundanständigkeit des CDU-Vorsitzenden. Am Ende stand ein Bundestagswahlergebnis, das für die Union die reine Enttäuschung war angesichts der Unbeliebtheit der Ampelparteien. Noch enttäuschter war die eigene Partei, als Merz schon nach den ersten Gesprächen mit der SPD die zuvor noch als heilig verkaufte Schuldenbremse preisgab. Für die notwendige Grundgesetzänderung musste Merz wiederholt bei den Grünen zum Kotau antreten - nachdem er sich über Jahre über selbige Partei mokiert hatte.

"Mund abputzen, weitermachen"

Auch das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit den Sozialdemokraten enttäuschte viele konservative Parteigänger. Zur Sicherung eines zweiten Wahlgangs noch am Dienstag musste Merz erneut auf die Grünen zugehen - und auch auf die ihm noch fremderen Linken. Er kann sich für deren verantwortungsvolles Handeln an diesem Tag nur bedanken. Friedrich Merz hat sich in seinem politischen Leben so oft zur eigenen Überraschung in der Defensive wiedergefunden: Es ist schon bedenklich, dass diesem Mann nun die Führung der Bundesrepublik inmitten ihrer schwersten Krise zufällt.

Aber: Niedrige Erwartungen an Merz' schwarz-rotes Regierungsbündnis sind das Prinzip, auf dem der Erfolg dieser Koalition gründen könnte. Nach den von Streit und Führungsmangel geprägten Jahren der Ampelkoalition gilt ruhige, professionelle Regierungsarbeit schon als Zauberformel gegen einen weiteren Aufstieg der AfD. Die Erwartungen an diese kommende Regierung sind nach dem Debakel im ersten Wahlgang noch einmal weiter hinuntergeschraubt.

Das Misstrauen zwischen den Fraktionen von Union und SPD ist durch den Vorgang nicht kleiner geworden. Anderseits hatten nun alle Frustrierten auf beiden Seiten ihre Gelegenheit zum Dampfablassen. Im zweiten Wahlgang waren auch die meisten widerborstigen Abgeordneten zurück in der Spur. Es hat zur Kanzlermehrheit gereicht. Merz, der in seinem langen Leben nach dem Motto "Mund abputzen, weitermachen" immer wieder aufgestanden ist, kann endlich loslegen im von ihm so ersehnten Amt - und mit jedem bisschen Gelingen positiv überraschen. Das ist seine Chance - keine große, aber immerhin.

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