Der Angriff der Ukraine in der Region Kursk zeigt die große Verwundbarkeit des russischen Staatsapparats. Das Mantra des Kremls - "Wir werden siegen" - stellen Russlands Eliten zunehmend infrage. Der Westen muss Putins Schwäche erkennen - und daraus endlich Konsequenzen ziehen.
Präsident Wladimir Putin hat sich in Russland das Image aufgebaut, jeden Gegner überlisten und bezwingen zu können. Seit Beginn seines Kriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 ist es jedoch angekratzt. Sein offensichtlicher Plan, in Kiew schnell ein paar "Nazis" zu beseitigen, dort ein prorussisches Regime zu errichten und die Ukraine dann - wie er es mit der Krim getan hat - Russland einzuverleiben, ist gescheitert. Anders als von Putin gedacht, wurden seine Soldaten nicht als Befreier empfangen. Und der Westen beschränkte sich keineswegs nur auf bloße Parolen der Solidarität, sondern versorgte die Ukraine mit Waffen.


Boris Bondarew ist Ex-Diplomat Russlands. Im Mai 2022 schied er aus dem Dienst aus - aus Protest gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kürzlich erschien sein Buch "Im Ministerium der Lügen".
Putin gab jedoch vor, dass alles nach Plan verlaufe. Er glaubte, der Westen würde rasch einknicken, die Ukrainer hielten nicht lange stand, ihr Land bald zusammenbrechen. Lauter Fehlannahmen, die sein wichtigstes Narrativ bedrohen: Mit dem Schlachtruf "Wir werden siegen" überzeugte Putin die russischen Eliten von seinem Feldzug. Die Eliten, das sind die Leute um Putin: Spitzenbeamte, Generäle, Oligarchen und alle anderen, die am meisten von Putins Regime profitieren.
Doch selbst in recht loyalen Kreisen kommen Fragen und Zweifel auf, weil immer klarer wird, dass der Krieg irgendwie schiefläuft. Die ständigen Misserfolge, großen Verluste und das Ausbleiben ernsthafter Durchbrüche führten sogar zu Spannungen in der russischen Armee. Regelmäßig wird verdeckte Kritik laut und zuweilen sogar offene - wie neulich von Oligarch Oleg Deripaska. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagt immer wieder: "Der Präsident weiß, wohin er das Land führt." Er müsste den Satz nicht wiederholen, gäbe es keine Zweifel. Niemand hat eine Ahnung, was Putin sich vorstellt: keine Perspektiven, keine Zukunftsvisionen. Die Tatsache, dass die Eliten Putin folgen, heißt nicht, dass sie keine Fragen haben. Sie haben welche - und je länger der Krieg dauert, desto mehr gibt es.
Unter Druck zeigt sich der wahre Kern Putins
Im Juni 2023 kam es deshalb zu dem berühmten Marsch von Jewgeni Prigoschin und seinen frustrierten Wagner-Soldaten auf Moskau - bis dahin der heftigste Schlag für Putins Image als starker Führer, der das Land unter Kontrolle hat und keine Destabilisierung zulässt. Zur Erinnerung: Das Versprechen von "Stabilität" ist das Hauptmotto von Putins gesamter Herrschaft. Analysen, dass Prigoschins Abenteuer keinerlei Auswirkungen auf Putins Macht hätten, sind falsch. An der Spitze der russischen Regierung und in anderen Machtzentren des Landes erinnert man sich noch sehr gut daran, wie hilflos, blass und feige Putin aussah, dass er auf Strafen für die Aufrührer verzichtete und stattdessen Prigoschin hinterlistig ermorden ließ.
Der große Verlierer der Meuterei war Putin selbst. Doch Monate später eroberte die russische Armee einige Dörfer. Das Narrativ "Wir werden siegen" konnte wieder erzählt werden. Doch plötzlich schlägt die Ukraine völlig unerwartet in der Region Kursk zurück. Der Ausgang der Operation ist offen. Aber schon steht fest, dass der Angriff der Ukrainer ein weiterer schwerer Schlag für Putins Position innerhalb der russischen Elite ist. Es ist bezeichnend, dass er sich wieder so verhält wie bei Prigoschins Meuterei. Selbst Putins glühender Einpeitscher Dmitri Medwedew ist verstummt und wartet ab, was sein Herr und Gebieter entscheidet.
Was das alles bedeutet? Putin ist bei ernsthafter Bedrohung ratlos und weiß nicht, was er tun soll. Er verhält sich noch nicht einmal wie eine in die Enge getriebene Ratte, die bereit ist, sich mit aller Kraft zu wehren, sondern wie ein feiger Hochstapler, der bisher mit allem - seinen Lügen und seiner brachialen Rhetorik - davongekommen ist und keinerlei Angst vor Strafe hat. Wie im Falle Prigoschins sieht Putin aber nun, dass er nicht mehr gefürchtet wird. Er ist plötzlich schwach und beginnt zu überlegen, wie er der kommenden Vergeltung entgehen kann - und all sein Eifer und sein Gezeter verschwinden.
Es gibt keinen Plan B
Dies ist eine Lektion, die westliche Politiker offenbar immer noch nicht völlig verstanden haben oder nicht zu begreifen bereit sind: Man muss Putin mit der Sprache der Gewalt begegnen. Vor diesem Hintergrund muss die Haltung westlicher Länder, der Ukraine den Einsatz gelieferter Waffen auf russischem Territorium zu verbieten, "um eine Eskalation zu vermeiden", scharf kritisiert werden. Die "Eskalation" gibt es bereits - Putins Gegner ist in russisches Gebiet eingedrungen! Aber er reagiert in keiner Weise darauf, wie es seine schlimmen Drohungen vermuten ließen. Er weiß schlicht und einfach nicht, was er machen soll. Denn Russland hat noch nie einen Plan B gehabt.
Plan A ist der Einzige, den es gibt. An dem hält Putin fest, frei nach einem Napoleon zugeschriebenen Zitat: "Man stürzt sich ins Getümmel und überlegt sich dann, was man als Nächstes tut." Aber was, wenn sich herausstellt, dass die Dinge ganz und gar nicht so laufen, wie man es gerne hätte? Hier zeigt sich, dass das superzentralisierte Regierungssystem Russlands nicht effektiv improvisieren kann.
Bislang kam Putin zum einen die Tatsache zugute, dass er über beträchtliche Ressourcen verfügt, darunter auch Männer für die Armee, und zum anderen die Tatsache, dass die Westmächte seiner Unverschämtheit und Kurzsichtigkeit mit Demut und Angst begegnen. Hätte sich der Westen entschlossener und unnachgiebiger verhalten, könnte nie von einer "Eskalation" die Rede sein.
Der Westen hat Angst und keine Vision
Schon der chinesische Militärstratege Sunzi und der italienische Philosoph Niccolò Machiavelli wussten: Zeigt man seine Angst, gibt man dem Gegner eine wirksame Waffe in die Hand. Indem der Westen ständig seine Furcht vor einer Eskalation beteuert, macht er Putin stark, mit der Folge, dass die Unterstützung für die Ukraine gemäßigt ausfällt und mit Bedingungen versehen wird. Dies hat jedoch eine Kehrseite, die zugleich zur Zwickmühle für den Westen wird. Die ukrainische Führung nutzt die Angst des Westens geschickt zu ihrem Vorteil, indem sie eine "Eskalation" provoziert und so ihre Verbündeten vor die schwierige Wahl stellt: Entweder ihr fortgesetzt beizustehen und somit eine "Eskalation" eben doch in Kauf zu nehmen. Oder die Ukraine im Stich zu lassen und ihre Niederlage anzuerkennen, wozu der Westen (noch) nicht bereit ist.
Die Angst vor einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Putin, die westliche Politiker nicht zu zeigen scheuen, macht sie im Großen und Ganzen zu Marionetten in den Händen sowohl Moskaus als auch Kiews. Der Westen verliert so ein Stück weit die Kontrolle über sein Handeln. Man kann sich nur wundern, warum sich westliche Politiker so unverantwortlich und initiativlos verhalten.
Der Grund dafür ist höchstwahrscheinlich, dass der Westen noch immer nicht weiß, was sein Ziel in diesem Krieg ist und wie er dahin gelangt. Leider fehlt auch im dritten Jahr des Krieges eine Vision, wie Russland und die Ukraine in Zukunft aussehen sollen. Und wenn man nicht weiß, in welchen Hafen man segelt, ist egal, wie der Wind steht – denn keiner bringt einen ans Ziel. Es ist nicht nur notwendig, der Ukraine entschlossen mit Waffen zu helfen, sondern mindestens genauso wichtig ist es, gegen das in Russland herrschende Regime zu kämpfen und dessen Untergang anzustreben. Sonst wird die Gefahr eines "großen" Krieges in Europa, einschließlich des Einsatzes von Atomwaffen, nie verschwinden – und die Angst davor erst recht nicht.