Meinung: Huch, die trauen sich ja was!

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Während die Krisen kulminieren, tritt der Regierungsneuling Friedrich Merz mit einem Kabinett voller anderer Regierungsneulinge an. Warum das ein Vorteil sein kann.

Boris Pistorius und Alexander Dobrindt: So heißen die beiden Männer, die Regierungserfahrung in Berlin besitzen – und die auch dem künftigen Kabinett angehören sollen. Alle anderen 14 designierten Ministerinnen und Minister haben noch nie auf höchster Ebene Regierungspolitik gemacht. Dies gilt ausdrücklich auch für Friedrich Merz, der sich an diesem Dienstag im Bundestag zur Wahl stellt.

Es ist ein gewaltiges personelles Wagnis, das der CDU-Vorsitzende und sein SPD-Amtskollege Lars Klingbeil eingehen: Als Kanzler und Vizekanzler wollen sie, die Neulinge am Kabinettstisch, mit lauter anderen Neulingen regieren. Und das in diesen Zeiten!

Für sie alle gilt: Noch nie besaßen sie eine derart große Verantwortung. Noch nie führten sie so große Beamtenapparate. Und noch nie standen sie derart unter Druck.

Doch genau das könnte sich als Vorteil erweisen. Denn wenn dieses Land etwas braucht, dann ist es ein Neustart – und der kann nicht nur mit Leuten gelingen, die einfach so weitermachen würden wie bisher.

So betrachtet ist das künftige Kabinett eine durchaus interessante Mischung aus Politikprofis, Aufsteigern, Quereinsteigern und Rückkehrern, die zumindest bei der Union nicht dem üblichen Regionalproporz entspricht. Bei den Profis trifft der ehemalige CSU-Bundesverkehrsminister Dobrindt, der jetzt Innenminister wird, auf bisherige Landesministerinnen wie Stefanie Hubig (SPD), die das Justizressort übernimmt, oder auf einen Umweltminister Carsten Schneider, der eine 27-jährige Karriere in SPD-Fraktion und Kanzleramt hinter sich hat.

Daneben gibt es viele Aufsteiger aus der zweiten Reihe. Migrationsstaatsministerin Reem Alabali-Radovan (SPD) etwa wird Entwicklungshilfeministerin. Oder der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, übernimmt das Kanzleramt.

Schließich ist da noch der absolute Quereinsteiger Karsten Wildberger. Der parteilose Digitalminister in spe war zuletzt unter anderem Chef von Media-Markt-/Saturn. Die künftige CDU-Wirtschaftsministerin Katherina Reiche wiederum gehört ähnlich wie Merz nach vielen Jahren in der Wirtschaft zu den Rückkehrern in die Politik.

Ja, gewiss, einige Personalien wirken stark begründungsbedürftig. Warum etwa Klingbeil Alabali-Radovan befördert, dafür aber führungserfahrene Frauen wie Amtsinhaberin Svenja Schulze oder seine Co-Chefin Saskia Esken überging, lässt sich nicht allein mit dem richtigen Bemühen um Diversität erklären. Auch muss der CDU-Abgeordnete Patrick Schnieder erst noch zeigen, was ihn eigentlich als Verkehrsminister qualifiziert. 

Und dennoch: Nachdem die Merz-Union mit der Merkel-Ära abgeschlossen hat und die Klingbeil-SPD nicht bloß in der Migrationspolitik die Ampel-Zeit hinter sich lässt, ist es nur logisch, auch personell einen Bruch zu vollziehen. Dies gilt ebenso für die Auswahl der Staatssekretäre und Staatsminister. 

Friedrich Merz und Lars Klingbeil versuchen tatsächlich etwas Neues

Ihre Aufgabe ist riesig. Diese Bundesregierung muss unter widrigen außen- und wirtschaftspolitischen Umständen alles gleichzeitig schaffen: Struktur-, Sozial- und Steuerreformen vorantreiben, Investitionsmilliarden unbürokratisch ausgeben, Energiepreise senken, Konjunktur ankurbeln, Migration kontrollieren, Integration verbessern, innere Sicherheit erhöhen, Bundes- und Cyberabwehr ertüchtigen – und das Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürger in diesen Staat wiederherstellen.

Der Koalitionsvertrag von Union und SPD verspricht dies alles und mehr. Aber er verströmt jenseits der gelockerten Schuldenbremse kaum Aufbruch oder gar Mut. Mit ihrem Personal versuchen nun Merz und Klingbeil tatsächlich Neues. Sie trauen sich was.

Das ist erst einmal ein Wert an sich, jenseits des erhöhten Risikos, das jedes Wagnis ins birgt. Ansonsten bleibt es gute Sitte, einer neuen Regierung 100 Tage zu geben. Selbst in dieser beschleunigten Welt und trotz der urdeutschen Lust am Scheitern sollte diese Schonfrist gelten.