Im Laufe des Jahres will die EU-Kommission Vorschläge präsentieren, wie Polizeien Zugang zu verschlüsselten Inhalten erhalten könnten. Nun fordern zivilgesellschaftliche Organisationen eine Beteiligung am Prozess ein. IT-Sicherheit und Menschenrechte müssten ganz oben auf der Agenda stehen.

Die Anfang April vorgestellte EU-Strategie zur inneren Sicherheit, ProtectEU, ruft zivilgesellschaftliche Organisationen auf den Plan. In einem offenen Brief an EU-Digitalkommissarin Henna Virkkunen fordern sie, dass künftig auch Wissenschaftler:innen, unabhängige Tech-Fachleute, Menschenrechts-Jurist:innen und generell Menschen aus der Zivilgesellschaft an den weiteren Diskussionen beteiligt werden müssen.
Sorge bereitet vor allem der „Fahrplan zur Entschlüsselung“, an dem die EU-Kommission derzeit arbeitet. Unter anderem gestützt auf Empfehlungen einer EU-Arbeitsgruppe will sie bis Ende des Jahres ausloten, ob und wie Ermittlungsbehörden Zugang zu verschlüsselten Inhalten erhalten können.
Polizeien betonen seit Jahren, dass sie ohne solche Hintertüren blind und taub seien, während Kriminelle sich hinter Technik verstecken würden – das sogenannte „Going Dark“-Phänomen. Allerdings sind sich IT-Expert:innen einig, dass ausgehebelte Verschlüsselung das gesamte IT-Ökosystem bedroht: Entweder oder, denn ein bisschen Sicherheit gebe es nicht, warnten etwa europäische Datenschutzbehörden.
Beteiligung der Zivilgesellschaft ein Muss
„Viele Technologie- und Digitalrechtsexperten befürchten, dass einige dieser ‚Lösungen‘ die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, ein wichtiges Instrument der Menschenrechte, untergraben könnten“, sagt Chloé Berthélémy von der Digital-NGO European Digital Rights (EDRi) zu netzpolitik.org. Neben EDRi haben insgesamt 39 NGOs und 43 IT-Expert:innen aus der Wissenschaft den Brief unterzeichnet, darunter der Chaos Computer Club (CCC), der Deutsche Anwaltverein (DAV) und Privacy International.
Die besagte EU-Arbeitsgruppe (High Level Group, HLG) hatte die längste Zeit hinter verschlossenen Türen und vorrangig mit Vertreter:innen aus dem Sicherheitsapparat getagt. Mutmaßlich sorgten erst Medienberichte dafür, dass die EU-Kommission zivilgesellschaftliche Gruppen überhaupt zu einem Treffen eingeladen hat – doch erst gegen Ende des jahrelangen Prozesses.
Dies dürfe sich nicht wiederholen, fordern die NGOs. Zum einen müsste sich Virkkunen mit den Unterzeichner:innen treffen, um Positionen und mögliche Beteiligungen am Prozess zu klären. Zum anderen müssten an den weiteren Diskussionen zum Fahrplan auch zivilgesellschaftliche Gruppen mit am Tisch sitzen, um sicherzustellen, „dass wir sinnvoll teilnehmen können“, heißt es in dem Schreiben.
Negativ-Beispiel Chatkontrolle
„Angesichts früherer gefährlicher Vorschläge, wie beispielsweise des in der CSA-Verordnung vorgeschlagenen Client-Side-Scannings, haben wir allen Grund zur Sorge“, sagt Berthélémy. Das gemeinhin als „Chatkontrolle“ bekannte Vorhaben, das seit Jahren im EU-Rat feststeckt, soll Inhalte gegebenenfalls vor ihrer Verschlüsselung durchleuchten und an Behörden melden, sollte ein Verdacht auf sexualisierte Gewalt gegen Kinder vorliegen.
Noch bevor die Kommission ihren Entwurf vorstellte, warnten weltweit bekannte IT-Sicherheitsforscher:innen vor „Wanzen in unserer Hosentasche“. Client-Side-Scanning auf den Geräten von Endnutzer:innen seien eine Gefahr für Privatsphäre, IT-Sicherheit, Meinungsfreiheit und die Demokratie als Ganzes. Gefruchtet hatten die Appelle an die Kommission, die zuweilen aus dem eigenen Haus kamen, nur bedingt. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass undurchsichtige Lobby-Gruppen womöglich mehr Einfluss auf den weitreichenden Gesetzentwurf hatten als Fachleute aus dem IT- und Menschenrechtsbereich.
Die NGOs bieten nun ihre konstruktive Mitarbeit an. „Anstatt mehr Ressourcen und Zeit in Systeme zu investieren, die nachweislich Schaden verursachen, sind wir der festen Überzeugung, dass alle Beteiligten zusammenarbeiten müssen, um langfristige Lösungen (sowohl technischer als auch nicht-technischer Art) für komplexe gesellschaftliche Probleme zu finden“, schreiben sie an Virkkunen. Diese Lösungen müssten „auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und alle Grundrechte respektieren“.
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