
Richtungsentscheidung in der Alpenrepublik: Bei der Wahl zum Nationalrat liegt die rechte FPÖ laut Hochrechnung vorn. Die konservative ÖVP ist künftig wohl nur noch zweitstärkste Kraft. Die SPÖ schneidet mit leichten Verlusten historisch schwach ab. Die Auszählung der Stimmen dauert an.
In Österreich zeichnet sich ein klarer Wahlausgang ab: Bei der Nationalratswahl verliert die konservative "Österreichische Volkspartei" (ÖVP) wohl ihre bisherige Mehrheit in der Volksvertretung. Die rechtspopulistische "Freiheitliche Partei Österreichs" (FPÖ) liegt am Wahlabend vorn.
Die FPÖ wird in den Hochrechnungen am Abend mit ihrem Spitzenkandidaten Herbert Kickl bei 29,2 Prozent gesehen und wäre damit neue stärkste Kraft - zum ersten Mal in der Geschichte der Alpenrepublik. Die ÖVP erreicht nur 26,2 Prozent, wie der österreichische öffentlich-rechtliche Sender ORF berichtete. Die österreichischen Sozialdemokraten (SPÖ) müssen leichte Verluste verkraften und landen auf Platz 3 mit 21,0 Prozent - dem bisher schwächsten Ergebnis der SPÖ bei Nationalratswahlen überhaupt.
Die liberale Partei NEOS ziehen mit 8,9 Prozent voraussichtlich noch vor den Grünen (8,2 Prozent) in den Nationalrat ein. Die BIER-Partei, die KPÖ und weitere Kleinparteien verpassen den Einzug ins Parlament. Die Hochrechnungen vom Meinungsforschungsinstitut Foresight werden im Auftrag des ORF erstellt und im Lauf des Abends auf Grundlage der eintreffenden Auszählungsstände überarbeitet.
Hinweis: Die Infografiken zur Nationalratswahl 2024 werden am Wahlabend laufend aktualisiert.
Schon jetzt ist klar: Die politischen Machtverhältnisse werden sich erheblich verschieben. Österreich rückt mit den 29,2 Prozent für die FPÖ deutlich nach rechts. Das bisher amtierende türkis-grüne Regierungsbündnis aus Konservativen und Grünen unter Bundeskanzler Karl Nehammer wird die Wahl nicht überstehen. Die Wahlbeteiligung lag ersten Schätzungen zufolge bei 79,0 Prozent.
Welche Partei künftig den Kanzler stellen kann, ist noch offen. Auf Basis der bisher vorliegenden Hochrechnungen hätten rein rechnerisch nicht nur FPÖ und ÖVP gemeinsam eine Mehrheit im Nationalrat, sondern womöglich auch - äußerst knapp - ÖVP und SPÖ. Gemeinsam mit einem dritten Koalitionspartner kämen Konservative und Sozialdemokraten auf eine komfortable Mehrheit. Denkbar wäre eine Dreier-Koalition mit den Liberalen oder den Grünen.
Die bisherige österreichische Kanzlerpartei ÖVP will nach ihrer Wahlschlappe in jedem Fall nicht mit dem Wahlsieger Herbert Kickl von der rechten FPÖ in einer Regierung zusammenarbeiten. "Das war gestern so und das ist heute so und morgen wird es noch immer so sein", sagte ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker in einer ersten Reaktion.
Die FPÖ war schon mehrmals an der Regierung in Wien beteiligt, allerdings bisher nur als Juniorpartner. Sollten sich die Hochrechnungen bestätigen und die Rechtspopulisten tatsächlich stärkste Kraft im österreichischen Nationalrat werden, ist dennoch ungewiss, ob es dem stramm rechten Parteichef Kickl gelingt, eine tragfähige Mehrheit zu schmieden. Kanzler und ÖVP-Chef Nehammer etwa hatte eine Zusammenarbeit mit Kickl als Regierungschef wiederholt ausgeschlossen.
Der frühere Innenminister Kickl hatte die FPÖ-Führung nach dem "Ibizagate"-Korruptionsskandal seiner Partei 2021 übernommen. Mit Verschwörungserzählungen über die Corona-Schutzmaßnahmen, feindlichen Parolen gegen Migranten und scharfer Kritik an der Unterstützung der Ukraine angesichts des russischen Angriffskriegs brachte er der FPÖ Zulauf.
Kickl machte im Wahlkampf zudem mit gezielten Tabubrüchen von sich reden. So nennt er eine "Remigration" als eines seiner politischen Ziele, bei der Österreicher mit nicht-europäischen Wurzeln, deren Integration als unzureichend eingestuft wird, ausgewiesen werden sollen.
Außerdem wiederholt der FPÖ-Chef ausdrücklich und ungeniert, dass er "Volkskanzler" werden wolle. Diesen Titel hatte während der NS-Herrschaft auch Adolf Hitler für sich gewählt. Aus Deutschland kamen am Wahlabend erste Glückwünsche: AfD-Vorsitzende Alice Weidel gratulierte Kickl und der Partei. "Die FPÖ ist laut 1. Hochrechnung stärkste Kraft! Herzlichen Glückwunsch an Herbert Kickl & die FPÖ", teilte Weidel wörtlich mit.
Zuwächse hatten sich in den Umfragen neben den Rechten auch für die österreichischen Liberalen angedeutet. Die Partei "Das Neue Österreich" (NEOS) - die in Österreich in Pink für "Freiheit, Fortschritt und Gerechtigkeit" antritt - steigt damit vor den Grünen zur neuen viertstärksten politischen Kraft im Land auf. Zuwächse verzeichneten jedoch nicht nur die Liberalen und ins besondere die FPÖ, sondern auch die BIER-Partei und die KPÖ. Die im Vergleich zur vorausgegangenen Wahl größten Verluste müssen ÖVP und Grüne hinnehmen. Die SPÖ liegt voraussichtlich nur 1,1 Prozentpunkte unter dem Niveau von 2019.
Die Kleinparteien weiten in Österreich das politische Spektrum auf: Chancen auf einen Einzug ins Parlament maßen Meinungsforscher im Vorfeld der Wahl etwa der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) sowie der vergleichsweise junge "Bierpartei" (BPÖ) bei. Insbesondere die als Spaß- und Satirepartei gestartete BPÖ könne es diesmal über die in Österreich geltende Vier-Prozent-Hürde schaffen, hieß es. KPÖ und Bierpartei könnten noch der Einzug in den Nationalrat gelingen, berichtete der ORF am Wahlabend
Wenig Aussichten, die im österreichischen Wahlrecht vorgesehenen Sperrklauseln zu überwinden, haben dagegen die übrigen österreichischen Kleinparteien, darunter auch die "Liste Madeleine Petrovic" (LMP). Bei der LMP handelt es sich um eine impfskeptische Tier- und Umweltschutzpartei, die aus der Ablehnung staatlich angeordneter Maßnahmen während der Coronavirus-Pandemie hervorgegangen ist.
Die namensgebende Spitzenkandidatin Madeleine Petrovic saß von 1990 bis 2003 als Abgeordnete der Grünen im Nationalrat. Wie die BPÖ trat die erst 2022 gegründete LMP am 29. September erstmals bei einer Nationalratswahl an. Mit ihrer namensgebenden Spitzenkandidatin erreichte die "Liste" laut Hochrechnung immerhin 0,5 Prozent der Stimmen.
Vollkommen unklar war vor dem Wahltermin noch, wie aktuelle Ereignisse wie die Hochwasser-Katastrophe das Stimmverhalten und den Wahlausgang beeinflussen. Die genaue Sitzverteilung entscheidet sich erst im Lauf der Stimmauszählung am Wahlabend.
Sperrklauseln kommen dabei in einem mehrstufigen Verfahren zur Anwendung. "Für die Nationalratswahl ist das österreichische Bundesgebiet in neun Landeswahlkreise eingeteilt, die wiederum in insgesamt 39 Regionalwahlkreise untergliedert sind", heißt es in den Erläuterungen des Innenministeriums in Wien.
Um bei der Sitzverteilung berücksichtigt zu werden, müssen Parteien entweder in der ersten Stufe der Auszählung in mindestens in einem der 39 Regionalwahlkreise eine gewisse Prozenthürde überschreiten oder in einer zweiten Stufe landesweit mehr als vier Prozent aller abgegebenen Stimmen erreichen. Die lokale Hürde für das Grundmandat liegt in der Regel bei 20 bis 25 Prozent der vor Ort abgegebenen Stimmen.
Bei der regulär alle fünf Jahre anstehenden Nationalratswahl werden alle 183 Sitze der Parlamentskammer neu vergeben. Zur Stimmabgabe aufgerufen sind grundsätzlich alle Österreicherinnen oder Österreicher ab 16 Jahren. Die zuständige Wahlbehörde im Innenministerium gab die Zahl der Wahlberechtigten mit exakt 6.346.059 an. Die Zahl liegt um fast 51.000 unter dem Niveau bei der zurückliegenden Wahl 2019.
Rückblick: Österreich vor fünf Jahren
Insgesamt leben in der Republik Österreich rund 9,2 Millionen Menschen. Die mit Abstand bevölkerungsreichsten Regionen liegen im Norden und Osten der Alpenrepublik. Allein die Hauptstadt Wien zählt rund zwei Millionen Einwohner.
Das die Hauptstadtregion umgebende Bundesland Niederösterreich kommt auf eine Bevölkerung von etwa 1,7 Millionen, das weiter westlich gelegene Oberösterreich auf 1,5 Millionen, die Steiermark im Südosten auf insgesamt knapp 1,3 Millionen. Die übrigen fünf österreichischen Bundesländer Tirol, Salzburg, Kärnten, Vorarlberg und das Burgenland beheimaten gemeinsam 2,6 Millionen Einwohner. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 28,7 Prozent.
Bei der Nationalratswahl 2019 hatte die ÖVP noch einen Stimmanteil von 37,5 Prozent erzielt. Zweitstärkste Kraft war die SPÖ mit 21,2 Prozent, gefolgt von der FPÖ, die 16,2 Prozent erreicht hatte. Die Grünen hatte vor fünf Jahren vergleichsweise starke 13,9 Prozent eingefahren. Die Liberalen (NEOS) lagen bei 8,1 Prozent. Die Wahlbeteiligung 2019 lag laut amtlichem Endergebnis bei 75,6 Prozent und damit unter der Quote der vorausgegangenen Nationalratswahl 2017, die noch bei 80,0 Prozent gelegen hatte.