Reisners Blick auf die Front: "Putin ist ein besserer Pokerspieler als Selenskyj"

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Nach der US-Reise des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sieht Markus Reisner vermehrt Anzeichen dafür, dass der Westen Kiew zu größeren Zugeständnissen an Russland drängt. In dem wöchentlich auf ntv.de erscheinenden Interview spricht der Oberst des österreichischen Bundesheers zudem über die Lage im Donbass: In Wuhledar könnte eine ukrainische Brigade eingekesselt werden. Pokrowsk drohe die Zerstörung. Die russische Sommeroffensive habe ihren Höhepunkt erreicht.

ntv.de: Die Ukraine meldete am Wochenende heftige Kämpfe um Wuhledar und Pokrowsk. Was können Sie darüber sagen?

Markus Reisner: Wir sehen den Höhepunkt der russischen Sommeroffensive. Russland will vor dem Einsetzen der Schlammperiode in drei bis vier Wochen möglichst Ergebnisse erzielen. Im Donbass greifen die Russen deshalb an mehreren Stellen an. Im Raum Kupjansk stoßen sie bei Pishane immer weiter vor und stehen kurz vor dem Fluss Oskil. Vielmehr aber spitzt sich die Situation im Zentralraum des Donbass zu, darunter in dem von Ihnen genannten Pokrowsk.

Was passiert da?

Ich gehe nicht davon aus, dass die Russen die Stadt noch vor Beginn der Schlammperiode einnehmen. Aber Pokrowsk war ein wichtiger Logistikknotenpunkt in der dritten und letzten Verteidigungslinie der Ukraine. Dahinter folgt bis zum Fluss Dnjepr nichts. Nun liegt Pokrwosk in Reichweite der russischen Artillerie. Wir müssen davon ausgehen, dass die Russen die Stadt in Schutt und Asche legen werden, um sie sturmreif zu schießen - so wie es schon anderen ukrainischen Städten ergangen ist. Denken Sie nur an Lyssytschansk oder Bachmut.

Der Ort Wuhledar, südlich von Pokrowsk, soll schon jetzt kurz vor dem Fall stehen.

Die Russen marschieren an den Flanken von Pokrowsk vor, bei Torezk im Norden und Wuhledar im Süden. Wuhledar wird fallen. Die Russen haben die Stadt operativ eingeschlossen. Das heißt: Die Rückzugsrouten für die Ukrainer aus der Stadt heraus stehen unter russischem Feuer. Die 72. Mechanisierte Brigade ist in Wuhledar faktisch eingeschlossen. Ihr Kommandeur wurde am Sonntag abgelöst.

Kann Kiew diese Männer und Frauen in russische Kriegsgefangenschaft ziehen lassen angesichts der Berichte über Folter und Misshandlung ukrainischer Kriegsgefangener?

Die Brigade hatte einmal 2000 bis 3000 Mann. Jetzt ist von mehreren Hundert bis wenigen Tausend die Rede, die dort eingeschlossen sind. In sozialen Netzwerken beider Seiten wird berichtet, dass Verhandlungen über einen Abzug der ukrainischen Soldaten laufen sollen. Die Frage ist, ob die Russen das zulassen. Es könnte auch einen lokal begrenzten Gegenangriff der Ukraine geben, um den Abzug aus Wuhledar zu ermöglichen. Allerdings haben die Russen 5000 zusätzliche Soldaten herangeführt, um den Kessel nachhaltig zu schließen. Im Fall der Kriegsgefangenschaft in Russland droht den Ukrainern Folter und Hunger. Die Bilder der nach den Gefangenenaustauschen zurückgekehrten Ukrainer sprechen für sich.

Blicken wir auf die russische Region Kursk, in der die Ukraine weiter große Gebiete besetzt hält. Was geschieht dort?

Russland hat hier vor zehn Tagen mit einem Gegenangriff auf die westliche Flanke des von den Ukrainern kontrollierten Territoriums begonnen. Die Russen haben aber nur anfänglich Raum gewonnen. Inzwischen sind die Kämpfe weitgehend auf lokal begrenzte Gegenstöße beider Seiten reduziert. Die Russen wirken aber weiter auf die Westflanke der Ukrainer mit Artillerie und Luftangriffen ein. Das sind Abnutzungsangriffe, derer sich die Ukraine kaum erwehren kann. Sie müsste dafür Flughäfen und Munitionsdepots tief in Russland angreifen, doch das ermöglichen die westlichen Verbündeten Kiews weiterhin nicht.

Damit sind wir bei der US-Reise des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Der hatte dort seinen sogenannten Siegesplan vorgestellt. Die Reaktionen blieben bestenfalls durchmischt.

Selenskyj hat nicht erreicht, was er sich vorgenommen hat. Es zeigt sich: Putin ist ein besserer Pokerspieler als Selenskyj. Nach einem Bericht der "New York Times" befürchtet die US-Regierung, dass sich Moskau für ukrainische Angriffe mit westlichen Langstreckenraketen bei den USA und den Europäern mit direkten Angriffen revanchieren könnte. Zudem kann man aus dem Artikel herauslesen, dass Washington sich von weit nach Russland hineinreichenden Angriffen im Gegensatz zu Kiew nicht die große Wirkung verspricht.

Welche Folgen hatten diese Einschätzungen Washingtons für das womöglich letzte große Waffenpaket der USA vor den dortigen Präsidentschaftswahlen?

Das Paket umfasst vor allem Luftabwehr, Waffen und Munition. Hinzu kommen Luft-Boden-Raketen vom Typ AGM-154 Joint Standoff Weapon. Das ist eine von Kampfflugzeugen abgeschossene Gleitbombe mit hoher Präzision, aber nur 160 Kilometern Reichweite. Kiew hatte aber auf die AGM-158 Joint Air to Surface Standoff Missile gehofft. Die hat bis 1800 Kilometer Reichweite. Selenskyj bekommt solche Langstreckenraketen weder von den USA noch von Deutschland, das kein Taurus-System liefern will. Auch die Briten halten sich wieder zurück.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine. Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Was bleibt also von Selenskyjs Reise? Er hatte ja demonstrieren wollen, dass die Ukraine Putin sehr wohl zu Zugeständnissen bomben könnte?

In den US-Medien wurde dieser Plan sehr kritisch bewertet. Ich deute das Vorgehen der US-Regierung so, dass sie Kiew signalisiert, dass die Ukraine einen realistischeren Plan braucht. Die US-Regierung glaubt offenbar nicht daran, dass die Ukraine besetzte Gebiete in Gänze zurückerobern kann. Ein Waffenstillstand könnte nach der Lesart nur in einem harten Kompromiss münden. Das heißt nicht, dass die USA die Ukraine aufgeben werden. Das Land wird als Pufferzone zwischen Russland und der NATO gebraucht. Aber Washington scheint gegenüber in Kiew auf eine höhere Kompromissbereitschaft zu drängen.

Dabei hat Kiew doch mit seinen Drohnen-Angriffen tief im russischen Territorium demonstriert, dass es Russland wehtun kann. Oder sind diese Angriffe nur Show?

Nein, denken Sie allein an den Angriff auf das Munitionsdepot in Toropets. Dort hat die Ukraine circa 30.000 Tonnen Munition vernichtet. Zum Vergleich: Die Sprengkraft der Hiroshima-Bombe betrug 16.000, jene von Nagasaki 22.000 Tonnen Sprengstoff. Das Problem ist das, was man im militärischen Sprachgebrauch Saturation nennt: Die Schläge müssen schnell hintereinander erfolgen, um den Gegner in die Knie zu zwingen. Das ist ähnlich wie beim Boxkampf: Der Gegner darf keine Gelegenheit zur Erholung bekommen. Die Ukraine kann aber nur Runde für Runde ein paar Treffer austeilen und hoffen, dass ihr Gegner irgendwann zu wanken beginnt. Das ist der Abnutzungskrieg, den wir seit 950 Tagen erleben - und Russland zeigt bislang keinerlei Anzeichen, in die Knie zu gehen.

Russland kann sich nicht nur auf den eigenen militärisch-industriellen Komplex stützen, sondern hat auch noch Lieferanten wie den Iran. Der gerät aber im Krieg zwischen Israel und der Hisbollah selbst unter Druck, die eigenen Verbündeten zu versorgen. Könnte das zulasten Russlands gehen?

Ohne Lieferungen aus Iran, China, Nordkorea und anderen Staaten wäre Russland nicht in der Lage, diesen Krieg zu führen. Der Iran ist nun selbst unter Druck geraten, weil Israel massiv gegen die von Teheran finanzierte Terrororganisation Hisbollah vorgeht. Auch die mit Iran verbündeten Huthi-Rebellen im Jemen sind mit Israel im Krieg. Der Iran wird also möglicherweise seine Waffenexporte zugunsten von Hisbollah und Huthis umschichten. Zugleich gerät aber auch die Ukraine unter Druck: Die USA stellen seit bald einem Jahr Israel zusätzliche Waffenpakete bereit, die zuletzt auch einen größeren Umfang hatten als die Hilfen für die Ukraine.

Die Ukraine steht in einem Wettbewerb mit Israel um die Gunst Washingtons?

Selbst die Ressourcen der USA sind begrenzt, weshalb die Ukraine weniger Waffen bekommt, je mehr Israel auf die US-Lieferungen angewiesen ist. Auch hier sehen wir in den USA die ersten warnenden Stimmen, welche darauf hinweisen, dass sich die US-Waffendepots zunehmend leeren. Ich gebe ihnen ein Beispiel. Die USA haben bis jetzt 8.500 Stück der Panzerabwehrlenkwaffe FGM-148 Javelin an die Ukraine geliefert. Die Jahresproduktion beträgt aber nach wie vor nur 800 Stück. Das heißt, die USA haben allein hier die Produktion von über zehn Jahren geliefert.

Mit Markus Reisner sprach Sebastian Huld

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