ESCAPE Pro: Polizei will Menschenmassen in Echtzeit analysieren

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Bei der Fußball-Europameisterschaft testete die Polizei eine neue Software für Großveranstaltungen, die Bewegungen von Menschenmassen simuliert. In Zukunft möchte sie die Software mit Echtzeit-Daten nutzen. Fußballfans kritisieren das Projekt.

Polizisten laufen über ein VolksfestBeim Fußball und bei Volksfesten wurde die Software schon eingesetzt. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Arnulf Hettrich

Vor rund sieben Monaten endete die Fußball-EM in Deutschland. Diese brachte nicht nur fragwürdige Hand-Elfmeter und faschistische Handgesten – sondern auch die Weiterentwicklung einer neuen Polizei-Software. Mit dieser simuliert die Polizei das Verhalten von Menschenmassen bei Großveranstaltungen.

Interne Unterlagen, Pressemitteilungen und Antworten auf unsere Nachfragen zeigen: Das Projekt ESCAPE Pro soll nur ein Zwischenschritt sein. Am Ende soll eine Software stehen, die Daten wie etwa Kamerabilder und Mobilfunk-Daten bei Events analysiert: Damit könnte Crowd-Control in Echtzeit möglich sein.

Wie Menschenmassen reagieren

Beim Forschungsprojekt „ESCAPE Pro“ geht es um Personenstromsimulationen, also computergestützte Simulationen von Menschenmassen und wie diese sich verhalten und bewegen. Bei der Polizei ist diese neue Form von Crowd-Control spätestens seit dem Jahr 2020 ein Thema. Damals startete das Programm ESCAPE, der Vorgänger von ESCAPE Pro.

Warum braucht die Polizei überhaupt so eine Software? Eine Sorge, die hinter ESCAPE stand: Wie reagieren Menschenmassen, wenn eine Großveranstaltung geräumt werden muss? Und was passiert, wenn man nicht nur ein Stadion räumen muss, sondern gleichzeitig noch ein Volksfest davor?

Im ESCAPE-Projekt versuchten verschiedene Polizeien zusammen mit der accu:rate GmbH und dem Fraunhofer-Institut Simulationsmodelle in verschiedenen Größen zu kombinieren. Die dort weiterentwickelte Software („crowd:it“) wurde dann im Rahmen des Folgeprojekts ESCAPE Pro bei der Europameisterschaft der Männer 2024 in verschiedenen Städten getestet. Das Ziel: Die Software in die Polizeiplanung integrieren und die Anwenderfreundlichkeit verbessern. Außerdem sollte so die Einsatzplanung bei der EM verbessert werden. Federführend war das Polizeipräsidium Stuttgart.

Die weiteren Projektteilnehmer und Partner laut Projektwebsite:

  • accu:rate GmbH,
  • Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung,
  • Deutsche Hochschule der Polizei,
  • Polizei Berlin,
  • Polizeipräsidium Hamburg,
  • Polizeipräsidium Köln
  • Polizeipräsidien Frankfurt a.M., München, Gelsenkirchen, Düsseldorf, Dortmund
  • Polizeidirektion Leipzig,
  • Amt für öffentliche Ordnung und Berufsfeuerwehr der Städte Stuttgart und Köln
  • Projektträger war die VDI Technologiezentrum GmbH im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).

Wie funktioniert crowd:it?

Die Modelle und Simulationen werden bei der Software im Vorfeld der Veranstaltung erstellt. „Da die Software mit Annahmen aus der Wissenschaft arbeitet und weder aktuelle Mobilfunk- noch aktuelle Videodaten verarbeitet werden, werden keinerlei Daten von Besuchenden erhoben“, so die Polizei Stuttgart auf eine Anfrage von netzpolitilk.org.

Die Bewegungsmuster basieren laut Polizei Stuttgart auf Beobachtungen, Feld- und Laborexperimenten. Viele technische Details bleiben allerdings offen. So ist auch unklar, wie genau die zu simulierenden Räume (beispielsweise ein Fußballstadion oder das Gelände eines Volksfestes) digitalisiert werden. Auf eine entsprechende Anfrage von netzpolitik.org antwortete die Polizei Stuttgart nicht.

Die bei den Projekten (weiter)entwickelte Software „crowd:it“ bringt laut Polizei großen Nutzen: Die Software stelle bei Großveranstaltungen etwa Engstellen, Staus und ungenutzte Flächen im Falle einer Räumung anschaulich dar, schreibt die Polizei Stuttgart auf Anfrage. „Darüber hinaus ergeben Auswertungen zu Räumungszeiten und Laufwegen neue Erkenntnisse, die in die polizeiliche Einsatzplanung für Ad-hoc-Lagen einfließen können.“ Die Polizei will so genaueres Wissen über Räumungszeiten und die Platzierung von Polizist:innen auf dem jeweiligen Gelände bekommen.

Doch wie groß ist der Nutzen für den Polizeialltag wirklich? Für diese Frage war im Projekt die Deutsche Hochschule für Polizei zuständig. Wie aus der Abschlusspräsentation hervorgeht, war es die Aufgabe der Polizeihochschule einen „Ergebnisbericht in Bezug auf Einsatzfähigkeit, Praxistauglichkeit und Leistungsfähigkeit auf Grundlage der Evaluationsergebnisse“ zu erstellen. Wir haben diesen Bericht angefragt, jedoch keine Antwort auf unsere Presseanfrage erhalten.

Ziel: Analysen in Echtzeit

Neben dem aktuellen Nutzen verfolgt die Polizei mit dem Projekt noch ein langfristigeres Ziel: Analysen von Menschenmassen in Echtzeit. Simulationen zum Verhalten von Menschen also nicht nur im Vorfeld von Großveranstaltungen, sondern mit den Daten echter Menschen, während sie auf dem Volksfest, Festival oder rund um das Stadion unterwegs sind. Dieser Wunsch durch die Polizei ist gut dokumentiert. So heißt es in einem Handout zum Projekt:

„Noch arbeitet die Simulation nicht mit Echtzeitdaten. Mittelfristiges Ziel ist es jedoch, ESCAPE PRO zu einer Echtzeitsimulation fortzuentwickeln. Dieser technologische Quantensprung würde die Informationen für die polizeiliche Beurteilung der Lage revolutionieren und die darauf basierenden polizeitaktischen Entscheidungen auf eine belastbarere Datengrundlage stellen.“

Auch im internen Protokoll des Projektabschlusstreffens wird von einem „Zwischenschritt in Richtung Echtzeit“ gesprochen. Das Protokoll sowie zwei Präsentationen zum Projektabschluss hat netzpolitik.org über eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz erhalten.

Bis es soweit kommt, so schreibt es uns zumindest die Polizei Stuttgart, müsse noch weiter geforscht werden. „Eine Analyse in Echtzeit ist aus technischer Sicht zum aktuellen Stand der Technik aufgrund der für die Simulation benötigten Rechenzeiten nicht möglich.“ Eine mögliche Lösung sieht die Polizei Stuttgart im Einsatz von künstlicher Intelligenz, welche die Rechenzeiten der Simulationen verkürzen könne.

Potenzielle Datenquellen: Drohnen, Kameras, Apps

Doch für Echtzeit-Analysen müssen Daten erst einmal erhoben und zusammengeführt werden. An potenziellen Datenquellen mangelt es der Polizei nicht. Bei der EM übermittelte eine UEFA-App bereits den Live-Standort von Fans an die Polizei, zudem lässt die Polizei zur Videoüberwachung zunehmend Drohnen fliegen. Auf Anfrage bestätigt die Polizei Stuttgart, dass theoretisch „Videokameras, Drohnen oder Mobilfunkdaten“ einbezogen werden könnten. Vorteile und Herausforderungen müsse man aber im Rahmen weiterer Forschung abwägen, „insbesondere unter der Berücksichtigung der Genauigkeit, der Zuverlässigkeit, aber auch des Datenschutzes“.

Neben den verschiedenen Datenquellen ist unklar, ob die aktuelle Menge an Videoüberwachung ausreichen würde – oder ob die Polizei noch mehr Daten für die Echtzeit-Analysen braucht. Polizei-dein-partner.de, ein Portal der Gewerkschaft der Polizei (GdP), schreibt in einem Bericht aus dem vergangenen Jahr: „Die Software kann nur dort zum Einsatz kommen, wo viele Überwachungskameras installiert sind, die den gesamten infrage kommenden Bereich erfassen.“ Die Polizei Stuttgart distanziert sich von dem Bericht auf dem GdP-Portal, die dort beschriebene Funktionsweise könne man nicht bestätigen.

Datenschützer nicht informiert

Sowohl die Bundesdatenschutzbeauftragte, als auch der Landesbeauftrage für Datenschutz in Baden-Württemberg hatten bisher keine Kenntnis vom Projekt. Der Landesdatenschutzbeauftrage für Baden-Württemberg schreibt, man könne darum keine Bewertung vornehmen, aber: „Uns erscheint es nicht abwegig, anhand von Simulationen mögliche Risiken bei Großveranstaltungen zu identifizieren.“

Inwieweit personenbezogene Daten genutzt würden für Vorbereitung und Durchführung der Simulation, könne man nicht beurteilen. „Wir nehmen Ihre Anfrage zum Anlass und gehen auf das Polizeipräsidium Stuttgart zu, um uns zu informieren.“ Zur möglichen Erweiterung der Software auf Echtzeit-Simulationen äußern sich die beiden Beauftragten nicht. 

Fußballfans in Sorge wegen noch mehr Überwachung

Organisierte Fananwält:innen kritisieren das Forschungsprojekt: „Mit großer Besorgnis“ nehme man zur Kenntnis, dass die Polizei die Software zum gegenwärtigen Stand in den Polizeialltag integrieren will und langfristig auf eine Echzeit-Lösung kommen will. „Diesen Gelüsten der absoluten Überwachung und Kontrolle ist sowohl als Fan als auch als Bürger vehement zu widersprechen!“, schreibt der Dachverband der Fanhilfen auf unsere Anfrage.

Die Fußballfans kritisieren das Projekt als intransparent. So seien vertragliche Details zwischen dem Software-Hersteller accu:rate und den Polizeien nicht öffentlich, ebenso auch nicht die genauen Szenarien, die die Polizei simuliert. Auch in den von uns angefragten IFG-Dokumenten ist viel geschwärzt. Dazu schreiben die Fananwält:innen: „Als Fanhilfe stehen wir dieser Software-Einführung äußerst kritisch gegenüber, zumal die genaueren Szenarien uneindeutig bleiben und somit auch die anzunehmenden Folgen hinsichtlich weitgehender Grundrechtsverletzungen.“

Einsatz auch bei Demonstrationen?

Wie genau die Software in den Polizei-Alltag integriert werden soll, ist nicht bekannt. Laut den internen Dokumenten der Abschlussbesprechung hat das Polizeipräsidium Stuttgart drei Varianten vorgeschlagen: Bei der ersten erstellt die Polizei alle Simulationsszenarien selbst, bei der zweiten wird eine „Grundsimulation“ durch Externe erstellt, auf welcher dann weitere Szenarien der Polizei basieren, bei der dritten Variante werden die Simulationen vollständig outgesourct.

Ebenso unklar bleibt, wofür genau die Software in Zukunft eingesetzt werden soll. Neben Fußballspielen wurde die Software bisher unter anderem auch bei einem Volksfest und einem Weihnachtsmarkt in Stuttgart getestet. Als „weitere prozessorientierte Anwendungsfelder“ nennt die Polizei Stuttgart in ihrer Abschlusspräsentation zum Projekt „Fanwalks“, „Einlasszenarien“ und „Versammlungslagen“. Mit „Versammlungslagen“ könnte auch ein Einsatz bei Demonstrationen und Protesten gemeint sein. Auf eine entsprechende Nachfrage von netzpolitik.org hat die Polizei Stuttgart nicht geantwortet.

Laut den Abschlussdokumenten soll es in Zukunft ein weiteres Forschungsprojekt geben. Dieses sei aber noch nicht beantragt, „da im Hinblick auf eine neue Projektskizze noch verschiedene Punkte abgestimmt werden müssen“, erklärt die Polizei Stuttgart. Die bisherigen Projekte wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Sicherheitsforschung gefördert, ESCAPE Pro mit etwa einer Million Euro.


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