"Rückschlag für das Völkerrecht": Warum Russlands Nachbarn auf Anti-Personen-Minen setzen

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Polen, Finnland und die baltischen Staaten sehen einen möglichen Angriff Russlands immer näher rücken. Deshalb wollen die EU-Länder an der Grenze zu Russland und Belarus sich künftig nicht mehr an das Minenverbot halten und treten aus dem Völkerrechts-Abkommen aus.

Anfang Dezember 1997 unterzeichnen 121 Länder in der kanadischen Hauptstadt Ottawa einen Völkerrechtsvertrag zum Verbot von Anti-Personen-Minen (APM). Auch Deutschland ist damals unter den Unterzeichnern und bekennt sich dazu, APM weder zu verwenden noch zu produzieren, zu lagern oder weiterzuverkaufen. Mehrere Dutzend Länder haben nie unterschrieben - darunter die USA, Israel, China, Russland und der Iran. Trotzdem ist es damals ein beispielloser Moment der Abrüstung in der Weltgeschichte.

Bis heute verfolgt das Abkommen "das Ziel, die Auswirkungen von bewaffneten Konflikten für Zivilpersonen einzudämmen und gilt als Meilenstein für die Verankerung humanitärer Werte in der Rüstungskontrolle", sagt Tobias Risse, Politikwissenschaftler an der Universität St. Gallen, im Gespräch mit ntv.de. Noch 2025 gehören 164 Vertragsparteien zum Abkommen, darunter alle Mitgliedsstaaten der EU. Doch mehrere EU-Staaten wollen raus: Polen, Finnland, Litauen, Estland und Lettland sehen sich derzeit so stark von Russland bedroht, dass sie angekündigt haben, aus dem Abkommen auszusteigen. "Dass ausgerechnet diese Staaten jetzt aus dem Vertrag aussteigen wollen, ist kein Zufall: Es sind die einzigen fünf Nato-Staaten, die direkt an Russland und/oder Belarus grenzen und damit am direktesten von den russischen Drohungen gegenüber der Nato betroffen", sagt Risse.

Zwei Länder sind schon so gut wie raus

Als erstes EU-Land kündigt Finnland bereits im Dezember 2024 an, angesichts der aktuellen Bedrohungslage einen Ausstieg aus dem Abkommen zu erwägen. Kurz darauf folgen Polen und die baltischen Staaten: Im März 2025 erklären die vier Staaten, das Abkommen gemeinsam verlassen zu wollen. Als Grund geben sie die zunehmende Bedrohung durch Russland an. "Mit dieser Entscheidung senden wir eine klare Botschaft: Unsere Länder sind bereit und können alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um unser Territorium und unsere Freiheit zu verteidigen", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung.

Doch bis die Ausstiege aus dem Völkerrechtsabkommen wirksam werden, dauert es eine Zeit. "Zunächst muss der Ausstieg auf nationaler Ebene beschlossen werden - wie in Lettland und in Litauen durch Abstimmungen im Parlament bereits geschehen", sagt Risse. In Polen, Estland und Finnland haben die Parlamente dem Austritt des Landes aus dem Abkommen bisher noch nicht zugestimmt.

"Der Austritt erfolgt dann durch eine formale Mitteilung an die anderen Vertragsstaaten, den UN-Generalsekretär und den UN-Sicherheitsrat", sagt Risse. "Sechs Monate nach dieser Mitteilung tritt der Austritt in Kraft. Danach wären die Staaten nicht mehr an das Abkommen gebunden."

Die Direktorin der internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen, Tamar Gabelnick, bezeichnet Litauens Vorgehen "sinnlos und verheerend". Mit der Wiedereinführung von Waffen, die unverhältnismäßig viele Zivilisten töten und verstümmeln, tausche Litauen das Leben unschuldiger Zivilisten gegen leere Sicherheitsversprechen ein. "Landminen sind Relikte der Vergangenheit, die Aggressoren kaum abschrecken werden, aber mit Sicherheit noch jahrzehntelang litauische Menschenleben kosten werden. Diese Entscheidung, die eher von Panik als von Vernunft getrieben ist, stellt Litauen auf die falsche Seite der Geschichte", sagt Gabelnick.

Nato-Abstimmung dringend erforderlich

Nach einem Austritt können die Staaten APM lagern, herstellen, weiterverkaufen oder selbst einsetzen. Schnell wird das nicht gehen, denn bevor Anti-Personen-Minen zum Einsatz kommen könnten, müssen sie erst einmal verfügbar sein. "Diese Länder haben sich jahrzehntelang an das Abkommen gehalten, daher haben sie keine Produktionsinfrastruktur", sagt Sicherheitsexperte Rafael Loss vom European Council on Foreign Relations im Gespräch mit ntv.de. "Denn den Rüstungsindustrien war es verboten, APM zu entwickeln." Die müsste erst einmal wieder aufgebaut werden. Und wenn die Verfügbarkeit geregelt ist, stellt sich die Frage, wie diese Minen zum Einsatz kommen.

Das Abkommen erlaubt unter Artikel 3 allerdings "Ausnahmen": Demnach dürfen Unterzeichnerstaaten APM für Übungs- und Ausbildungszwecke lagern. Von dieser Klausel haben einige der nun austretenden Staaten in der Vergangenheit Gebrauch gemacht, auch wenn alle nach eigenen Angaben derzeit keine Vorräte gelagert haben. "Die Streitkräfte wissen also mit diesen Waffensystemen umzugehen", sagt Loss. "Was erst wieder erlernt werden muss, ist, sie zur Verteidigung auf dem Schlachtfeld einzusetzen."

Doch der mögliche Einsatz durch diese Staaten hätte Folgen für die Bündnispartner der Nato, denn Polen, Finnland, Lettland, Estland und auch Litauen sind alle Mitglieder in der Allianz. Und seit Kurzem sind in Litauen mehr als 100 Bundeswehr-Soldaten stationiert. Bis 2027 soll daraus eine Bundeswehr-Brigade mit knapp 5000 Soldaten an den Standorten Rudninkai und Rukla werden. "Im Verteidigungsfall würden in Litauen nicht nur Litauer kämpfen, sondern es wären auch andere Nato-Streitkräfte unterwegs", sagt Loss. "Es ist nun erforderlich, Abstimmungsprozesse über den Einsatz von APM innerhalb der Nato zu initiieren." Das heißt, die Nato-Staaten müssten sich schnellstmöglich darüber verständigen, wie sie als Allianz solche Waffensysteme nutzen würden - ohne dass die Streitkräfte der Länder, die noch im Ottawa-Abkommen sind, selbst Anti-Personen-Minen einsetzen. Aber würden die Länder diese Minen auch wirklich verwenden?

Gerüstet für das Worst-Case-Szenario

"Grundsätzlich wurden diese Waffen vor allem als Defensivwaffen entwickelt, um feindliche Truppenbewegungen zu verlangsamen oder abzuschrecken - zum Beispiel in Grenzregionen", sagt Risse. "Allerdings haben sie - beabsichtigt oder nicht - oft verheerende Konsequenzen für die Zivilbevölkerung und sind deswegen international geächtet." Risse meint, ob die Länder APM einsetzen, sei zum jetzigen Zeitpunkt noch völlig offen.

Das sieht Sicherheitsexperte Loss ähnlich. "Finnland, Polen, die baltischen Staaten wollen diese Waffen nicht einsetzen", so Loss. "Aber sie sind zu dem Entschluss gelangt, dass die Verfügbarkeit solcher Waffen dazu beitragen kann, dass es gar nie zu einem Konflikt kommt und Russland davon absieht, einen Angriff überhaupt in Erwägung zu ziehen."

Angesichts der Bedrohung durch den unmittelbaren Nachbarn Russland bereiten sich die Streitkräfte der Länder auf das Worst-Case-Szenario vor: einen russischen Angriff. Deswegen verstärken die baltischen Staaten und Polen die Grenzsicherungsanlagen durch verschiedene Sperrmaßnahmen: Stahlstangen, Betonklötze, Stacheldraht, Beobachtungsanlagen und im Einzelfall verschiedene Sprengfallen. "So wird ein neuer Eiserner Vorhang gebaut", sagt Loss. "Die Abwägung ist im Moment, dass man nicht ausschließen kann, dass es zu einem Krieg kommt. Deswegen ist man gewillt, die Risiken, die mit dem Einsatz von APM zweifellos einhergehen, zu tragen."

"Rückschlag für das internationale Völkerrecht"

Gezielt soll ein Signal an Russland gesendet werden: Greift nicht an, denn ein Angriff wäre zäh und wenig erfolgversprechend. Die Ausstiege sind aber ebenso eine Ansage in der internationalen Staatengemeinschaft. "Wenn sich Staaten, die das Abkommen vor Jahren unterschrieben haben, nun für einen Ausstieg entscheiden, schädigt das international die Wirkmächtigkeit des Vertrags", sagt Loss.

Anti-Personen-Minen

"Anti-Personen-Mine" (APM) bezeichnet eine Minenart, die durch die Annäherung, die Anwesenheit oder die Berührung einer Person zur Explosion gebracht wird und durch eine oder mehrere Personen verletzt oder tötet. Es handelt sich um Landminen, die gezielt gegen Menschen eingesetzt werden. Deshalb ist dieser Waffentyp international geächtet. Im aktuellen Landmine Monitor der die internationale Kampagne zum Verbot von Landminen (ICBL) heißt es: "Russland hat seit der Invasion der Ukraine im Februar 2022 in großem Umfang Anti-Personen-Minen eingesetzt, was zu einer beispiellosen Situation geführt hat, in der ein Land, das nicht Vertragspartei des Minenverbotsvertrags ist, diese Waffe auf dem Territorium eines Vertragsstaates einsetzt." Auch die Ukraine setzt mittlerweile Landminen im Krieg gegen Russland ein. Als Folge steigt die Zahl der Menschen, die Landminen zum Opfer fallen, an. Laut dem Landmine Monitor gab es im Jahr 2023 mehr als 5000 Opfer von Landminen, davon mindestens 1983 Tote und 3663 Verletzte.

Auch Risse sieht in den Austritten "einen Rückschlag für das internationale Völkerrecht" zu einem fatalen Zeitpunkt: "Dass diese Staaten gerade dann austreten, wenn ein Konflikt droht, also wenn dieses Abkommen von größter Bedeutung ist, untergräbt nicht nur das Abkommen selbst, sondern signalisiert der internationalen Gemeinschaft auch: Rüstungskontrolle und humanitäres Völkerrecht gelten nur so lange, wie die Sicherheitslage und die eigenen Interessen es erlauben."

"Es handelt sich um eine Reaktion auf die direkten Drohungen Russlands gegen diese Staaten", sagt Risse. "Dennoch bergen die Ausstiege Eskalationspotenzial, denn sie könnten andere Staaten ermutigen, Rüstungskontrollabkommen im Bedarfsfall aufzukündigen - und schwächen damit langfristig die internationale Sicherheit."

Das Verlassen des Ottawa-Abkommens bedeutet jedoch nicht, dass die Länder das Völkerrecht zukünftig ignorieren würden. "Die betreffenden Länder werden sich natürlich nach wie vor weiter an das humanitäre Völkerrecht halten", sagt Loss. "Anders, als das bei Russland zu sehen ist."

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