
von Hans Böller Als Heiner Stuhlfauth, geboren am 11. Januar 1896, ein ganz kleiner Bub war, konnte er nichts vom 1.FC Nürnberg wissen. Sein Vater konnte ihn nicht mitnehmen zum 1.FC Nürnberg. Es gab den 1.FC Nürnberg noch nicht. Fußball gab es, aber in Deutschland erst seit ein paar Jahren. Ob Heiners Eltern, der Metallarbeiter Karl Stuhlfauth und dessen Frau Babette, dieses neuartige Spiel näher kannten, ist nicht überliefert. Aber sie waren skeptisch, als ihr Sohn beim FC Franken das Kicken begann. Im Oktober 1916 schloss sich Heiner Stuhlfauth dem am 4. Mai 1900 gegründeten 1.FC Nürnberg an, der Club spielte in der Bezirksliga Mittelfranken-Ostkreis. Eine höhere Liga gab es nicht. Es waren unsichere Zeiten; weil Ernst Weschenfelder im Weltkrieg gefallen war, brauchte der Club einen Torwart. Stuhlfauth sollte ein sehr guter Torwart werden. Zwei Titel nach Stuhlfauths Tod Deutschland war erstmals eine Republik geworden, als er mit dem 1.FC Nürnberg den bis dahin größten Erfolg des Vereins feiern durfte. Die elf Spieler, die 1920 im Finale gegen die Spielvereinigung Fürth den ersten deutschen Meistertitel für Nürnberg gewannen, waren allesamt älter als ihr Club. Das ist jetzt 105 Jahre her. Heute ist niemand mehr älter als der Club, und Generationen von Vätern haben ihre Kinder irgendwann zum ersten Mal mitgenommen zum Club. Am 15. September 1966 kamen Tausende Menschen zum Waldfriedhof nach Schwaig. Sie gaben Heiner Stuhlfauth das letzte Geleit, dem Torwart, mit dem der Club in den 1920er-Jahren fünf deutsche Meistertitel gewann. Stuhlfauth war der erste internationale Fußball-Star aus Deutschland, Kapitän der Nationalmannschaft, Rekordnationalspieler seiner Zeit. Es gab noch keine Weltmeisterschaften, als 1930 die erste stattfand, wollte Deutschland nicht mitmachen. Stuhlfauths Karriere endete, als es mit der ersten Republik auf fürchterliche Weise zu Ende ging, aber noch 1956 wurde Stuhlfauth in einer Umfrage des Fachmagazins „kicker“ zum populärsten deutschen Fußballer gewählt. Mit ihm sei „Nürnberg in aller Welt zu Ruhm und Ehre gekommen“, sagte Bürgermeister Fritz Haas am Grab. Niemand fand das übertrieben. Der Club spiele, heißt es in Stuhlfauths berühmtestem Zitat, „für diese Stadt, diesen Verein und die Bewohner Nürnbergs“. Nürnberg gewann nach seinem Tod noch zwei Titel: die Meisterschaft 1968 und den DFB-Pokal 2007. Nürnberg war in nur 33 von 61 Bundesliga-Spielzeiten dabei, aber wer den Club sucht, muss nicht auf Tabellen schauen oder ins Stadion gehen. Schönste Zeit in Nürnberg Auch Heinz Höher lebt nicht mehr, nicht lange vor seinem Tod 2019 dachte einer der erfolgreichsten Nürnberger Trainer darüber nach, was der Club bedeutet. Der feinsinnige Höher sprach offen über sein Leben als Träumer, Alkoholiker, Zweifler, über die Dankbarkeit um dieses Leben. Seine schönste Zeit als Trainer, sagte der Rheinländer aus Leverkusen, habe er in Nürnberg gehabt, mit der Anhänglichkeit der Menschen. Er blieb in der Stadt, auch der Fußballverein blieb ihm. „Jeder projiziert ein Stück von sich selbst auf den Club“, überlegte Höher. Glück, Unglück, „das ist dann der Club – immer etwas anderes, für jeden auf seine Weise, immer da.“ Es war nach dem Pokalsieg 2007, dem ersten Titel nach 39 Jahren: ein Dorffriedhof im Nürnberger Land, eine alte Frau mit einer größeren Handtasche. Sie sah sich etwas unsicher um, ging zu einem Grab – und holte ein FCN-Fähnchen aus der Tasche. Sie steckte es auf ein Grab, sie lächelte, als sie bemerkte, dass sie nicht allein war. Ein Fähnchen auf dem Grab, ihr Herrgott, überlegte sie, wird das bestimmt verstehen, „mein Max wäre halt so glücklich gewesen“. Sie war es auch – für ihren Max, dankbar um die gemeinsame Zeit, „und der Club“, erzählte sie, „hat halt immer dazugehört.“ Es gibt aus 125 Jahren viele Bilder von diesem Club. Sogar in Öl, der Nürnberger Maler Ludwig Kühn verewigte den großen Stuhlfauth. In Schwarzweiß, gerahmt von kleinen weißen Zacken – und auf Instagram, meistens ist nicht einmal ein Fußball darauf zu sehen. Sondern Menschen, die sich freuen. Oder die traurig sind. Jeder bringt ja etwas mit zum Fußball: sich selbst. Tausende weinten während des Pokalfinales 2007 in Berlin, als der Publikumsliebling Marek Mintal Opfer eines bösartigen Foulspiels wurde. Die Tränen galten Mintal, dem Club – aber sie flossen auch wegen der kranken Mutter, wegen der Angst vor dem Wechsel des Arbeitsplatzes, aus Liebeskummer. Der Club ist eine Art Märchen Stuhlfauths berühmtes Zitat kennen all die Menschen, die ein Stück von sich selbst auf den Club projizieren. Menschen, die nie vergessen werden, wie sie beim Endspiel 2007 geweint und gelacht haben, wie befreiend das war, wie intensiv und wie überwältigend das Glück dieses Sieges. Kein Leben wird objektiv besser, wenn die eigene Mannschaft gewinnt, niemand wird davon gesünder, reicher, schöner. Aber beim Fußball darf man Gefühle zeigen, darf man das Leben so leben, wie es ist: anstrengend, beängstigend und wunderschön, manchmal alles zusammen. Nichts davon findet man in Statistiken oder Datensammlungen. Den Club gibt es nur über die Menschen, die ihn lieben, belächeln, manchmal verfluchen. Der Club ist eine Art Märchen, das nicht einen Autor hat, sondern viele, ein Volksmärchen, basierend auf Wahrheiten, auf Pokalen, Auf- und Abstiegen, großen Siegen, bitteren Niederlagen. Aber darum geht es gar nicht zuerst. Den Club, der 2020, exakt hundert Jahre nach dem ersten Meistertitel, beinahe in die Dritte Liga abgestiegen wäre, unterschied nichts vom großen Stuhlfauth-Club der Goldenen Zwanziger, man sah es im Relegations-Rückspiel in Ingolstadt - in letzter Sekunde gelang Fabian Schleusener das rettende Tor, hätte man alle Freudenschreie gebündelt, sie hätten Stuhlfauth von den Toten auferwecken können, und ein bisschen war es ja sogar so. Denn das Märchen erzählt die Geschichten der Mitleidenden, die ihrer Väter und Großmütter, ganze Lebensgeschichten über Generationen. Der Moment konnte nur groß sein, weil es Heiner Stuhlfauth gibt, Max Morlock, den Weltmeister von 1954, Marek Mintal – und die, die mit ihnen litten und leiden. Alte Männer erzählten 2020 mit Tränen in den Augen davon, wie sie an der Hand des Vaters zum ersten Mal zum Club gegangen waren. Eine 1:3-Niederlage gegen einen Drittligisten gehört seit fünf Jahren und vielleicht für noch einmal 125 Jahre zu den Höhepunkten der Vereinsgeschichte. Am schönsten ist das Spiel da, wo es nicht erklärbar ist.