"Sind dabei, Maria umzubringen": Keine Spur von Belarus' bekanntester Gefangener

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Freunde und Verwandte sind verzweifelt: Seit vier Jahren steckt Maria Kolesnikowa, die bekannteste Oppositionelle, in einer Strafkolonie in Belarus. Die Familie wird nicht zu ihr gelassen, Ärzte auch nicht, Mithäftlinge dürfen nicht mit ihr reden. Wie es ihr geht, weiß keiner.

Der letzte Kontakt der Familie zu ihr war vor mehr als 18 Monaten. Ehemalige Mitgefangene berichten, Maria Kolesnikowa habe aus ihrer winzigen Zelle heraus um medizinische Hilfe gebeten. Der Vater betont, dass die 42-Jährige schwer krank sei. Mehrfach habe er versucht, seine Tochter in der Strafkolonie nahe der Stadt Gomel zu besuchen, sagt er. Doch jedes Mal sei er von den Wärtern abgewiesen worden.

Im Mai oder Juni sei Kolesnikowa in ein Krankenhaus in Gomel gebracht worden, über das Ergebnis der Behandlung sei ihr aber nichts bekannt, sagt Natalja, die bis zu ihrer Freilassung im August in der Zelle direkt nebenan eingesperrt war - aus Angst vor weiteren Repressionen will die Frau nicht ihren vollen Namen nennen. "Ich kann nur zu Gott beten, dass sie noch am Leben ist", sagt der Vater Alexander Kolesnikow. "Die Behörden ignorieren meine Bitten um ein Treffen und um Briefe - es ist ein furchtbares Gefühl der Machtlosigkeit für einen Vater."

Kolesnikowa, die vor ihrem politischen Engagement professionelle Flötistin war, gelangte im Rahmen der Proteste nach der umstrittenen Wahl im August 2020 zu internationaler Berühmtheit. Der autoritär regierende Präsident Alexander Lukaschenko hatte sich durch massive Unterdrückung der Opposition eine sechste Amtszeit gesichert. Tausende Menschen gingen auf die Straßen. Und Kolesnikowa stand oft an der Spitze der Demonstrationen.

Im September jenen Jahres versuchten die belarussischen Behörden, die Aktivistin in die Ukraine abzuschieben. Doch sie verweigerte die Ausreise und zerriss an der Grenze ihren Pass. Daraufhin wurde sie erneut festgenommen und ein Jahr später zu einer elfjährigen Haftstrafe verurteilt - unter anderem wegen angeblicher Verschwörung zur Übernahme der Macht im Land.

Atmosphäre wie im Kriegsrecht

Laut Natalja herrschte in dem Zellenblock in der Haftanstalt bei Gomel eine Atmosphäre, als wäre dort "das Kriegsrecht ausgerufen" worden. "Den übrigen Gefangenen wurde streng verboten, mit Maria zu sprechen oder auch nur Blicke mit ihr auszutauschen", sagt sie. Im November 2022 war Kolesnikowa in eine Intensivstation gebracht worden, um wegen eines Geschwürs operiert zu werden. Zuletzt habe sie die Aktivistin sechs Monate nicht mehr nebenan mit Wärtern sprechen hören, sagt Natalja. Andere Insassen hätten von deren Bitten um medizinische Hilfe erfahren und berichtet, dass "sehr lange Zeit" keine Ärzte gekommen seien.

Die außerhalb des Landes lebende Schwester Tatjana Chomitsch sagt, Kolesnikowa habe nach Angaben von ehemaligen Mitgefangenen zuletzt nur noch etwa 45 Kilogramm gewogen. "Sie sind dabei, Maria allmählich umzubringen. Und ich denke, dass dies gerade eine kritische Phase ist. Denn niemand kann unter solchen Bedingungen überleben." Seit Februar 2023 habe sie von ihrer Schwester keine Briefe mehr bekommen. An Kolesnikowa adressierte Briefe würden laut den ehemaligen Mitgefangenen "vor ihren Augen vom Gefängnispersonal zerrissen".

Kolesnikowa ist eine der prominentesten politischen Gefangenen in Belarus - aber bei Weitem nicht die einzige. Der UN-Menschenrechtsausschuss hat das Land wiederholt aufgefordert, "dringende Maßnahmen zum Schutz" der ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftierten Aktivisten zu ergreifen. Im September forderte das Europäische Parlament die Regierung des Landes auf, sämtliche politischen Gefangenen freizulassen.

Mindestens sechs politische Gefangene gestorben

Laut einer Zählung der Menschenrechtsorganisation Wjasna gibt es in Belarus etwa 1300 politische Gefangene - darunter auch Ales Bjaljazki, der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Gründer dieser Organisation. Mindestens sechs sind hinter Gittern gestorben. Für diese sechs Menschen sei, ebenso wie für Alexej Nawalny in Russland, jede Hilfe zu spät gekommen, sagt Chomitsch. "Wir und die westliche Welt haben nicht mehr viel Zeit, das Leben von Maria zu retten."

Auch von anderen inhaftierten Oppositionsführern gibt es zum Teil seit mehr als einem Jahr kein Lebenszeichen mehr. Zu ihnen zählt etwa Sergej Tichanowski, der 2020 gegen Lukaschenko antreten wollte, daraufhin aber festgenommen wurde - seine Frau Swetlana Tichanowskaja, die an seiner Stelle übernahm, musste einen Tag nach der Wahl das Land verlassen. Der aufstrebende Oppositionspolitiker Wiktar Babaryka wurde ebenso kurz vor der Wahl inhaftiert. Kolesnikowa war dessen Wahlkampf-Managerin gewesen. Seit Winter 2023 gibt es auch keinen Kontakt mehr zu dem Oppositionspolitiker Mikola Statkewitsch sowie zu Kolesnikowas Anwalt Maxim Snak.

Lukaschenko behauptet, es gebe in Belarus keine politischen Gefangenen. In den vergangenen Monaten ließ er derweil 115 Menschen frei, bei deren Verurteilungen es sehr wohl politische Elemente gegeben hatte. Beobachter werteten dies als einen Versuch, die Beziehungen zur EU zumindest teilweise wiederherzustellen, um nicht ganz und gar von Moskau abhängig zu sein.

Kein Kurswechsel erwartet

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"Das Regime von Lukaschenko ist daran interessiert, nicht ein Teil von Russland zu werden und wünscht sich deswegen ein gewisses Maß an Kommunikation zum Westen", sagt der Belarus-Experte Alexander Friedman. Um eine Lockerung der Sanktionen sowie eine zumindest partielle Anerkennung des Ergebnisses der nächsten Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr zu erreichen, biete es sich an, über politische Gefangene zu sprechen.

Regierungsgegner und Menschenrechtler sehen derweil keine Anzeichen für einen politischen Kurswechsel in Minsk, da alle führenden Vertreter der Demokratie-Bewegung weiterhin in Haft sind und nach den jüngsten Begnadigungen auch wieder dreimal so viele Aktivisten festgenommen worden sind. "Die Repressionen bestehen weiterhin", betont Chomitsch. Trotzdem "sollte der Westen Lukaschenko ermutigen, weitere politische Gefangene freizulassen". Das "Regime" sende eindeutige Signale - und es sei sehr wichtig, dass diese Gelegenheit genutzt werde.

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