
Westliche Politiker sollten sich an der Kühnheit der Führung in Kiew ein Beispiel nehmen, fordert der australische Ex-General Ryan in seinem neuen Buch. Obwohl die westliche Unterstützung für die Ukraine zu Wünschen übrig lasse, habe ihr Militär strategische Trümpfe in der Hand.
Weder ein Sieg noch eine Kapitulation zeichnet sich ab, zweieinhalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Dennoch verkündete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montag in einem Interview mit dem Nachrichtensender ABC News, Kiew sei dem Ende des Krieges mit Moskau näher. Selenskyj fügte hinzu, Präsident Wladimir Putin habe aufgrund der Offensive in der russischen Region Kursk "Angst". Auf einer einwöchigen Reise durch die USA wirbt Selenskyj derzeit für die weitere Unterstützung der Ukraine. Im Gepäck hat er seinen Vier-Punkte-Plan für den Sieg. Er beinhaltet militärische, politische, diplomatische und wirtschaftliche Strategien.
Strategien für den Sieg - darum geht es auch in dem neuen Buch von Ex-Generalmajor Mick Ryan, "The War for Ukraine - Strategy and Adaptation under Fire" ("Der Krieg um die Ukraine - Strategie und Anpassung unter Beschuss"). Darin analysiert der Australier die Anpassungsfähigkeit sowohl der beiden Kriegsparteien als auch der USA und der NATO-Länder - und liefert eine erste Zwischenbilanz zur strategischen Dynamik des Krieges. Ryan, der wöchentlich in seinem Newsletter "Futura Doctrina" Lageberichte und Analysen veröffentlicht, erklärt dazu im Gespräch mit ntv.de: "Wir können viel darüber lernen, wie Nationen in Konflikte verwickelt werden, wie sie Konflikte abschrecken können."
Warum er den Lektionen ein ganzes Buch von 227 Seiten widmet? "Dieser Krieg ist das klarste Beispiel für Gut gegen Böse." Wenn diese Klarheit nicht ausreiche, um den Westen von der "strategischen Ängstlichkeit" der letzten 30 Jahre abzubringen, sei laut Ryan schwer vorstellbar, "was uns sonst noch zu einer proaktiveren Haltung bei der Verteidigung unserer demokratischen Systeme gegen China und Putin und andere bewegen könnte."
Die strategische Ängstlichkeit des Westens - darunter explizit auch Deutschlands, zeige sich am schleppenden Tempo der Waffenlieferungen, sagt Ryan ntv.de. Generell fehle dem Westen eine angemessene Strategie, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. "Wir helfen, solange es nötig ist', ist keine Strategie, sondern ein Slogan", sagt Ryan. Mitte September wurde schließlich bekannt gegeben, dass die USA jetzt eine Ukraine-Strategie haben - die allerdings vertraulich ist.
Kursk-Operation zeigt Anpassungsfähigkeit
"Das Wichtigste ist, sicherzustellen, dass der Zweck der Unterstützung klar ist, und das ist: der Ukraine zum Sieg zu verhelfen", so Ryan. "Aber wir sehen dieses Narrativ nicht." Er vermutet, die Ukraine-Strategie sei der minimalistische Versuch einer Schadensbegrenzung von US-Beamten, die eventuell die Regierung nach der US-Wahl verlassen müssen. An eine bedeutende Änderung der US-Politik glaubt Ryan deshalb nicht.
Dass Selenskyj ausgerechnet jetzt seinen Siegesplan in Washington präsentiert, dürfte hingegen die Fortsetzung strategischen Kalküls sein: Anfang August 2024 startete die Ukraine ihre gewagte Operation in der russischen Oblast Kursk. Laut dem ukrainischen Oberbefehlshaber General Oleksandr Syrskyi zielt sie vor allem auch darauf ab, den westlichen Unterstützern der Ukraine, insbesondere den Vereinigten Staaten, eine Botschaft zu senden.
Unklar ist, ob dieser Schachzug erfolgreich sein wird. Klar ist für Ryan hingegen, dass der anfängliche Erfolg der Kursk-Offensive die Anpassungsfähigkeit der Ukraine an einen dynamischen Konflikt zeigt. Ukrainische Truppen haben aus den Erfahrungen, die sie während Gegenoffensive im vergangenen Jahr gemacht haben, gelernt.
Wenn es um Strategie und Anpassung geht, gibt es laut Ryan riesige Unterschiede der Herangehensweise der Ukrainer und der Russen. Die Ukraine hat in diesen beiden Bereichen einen asymmetrischen Vorteil gegenüber Russland entwickelt, lautet sein Urteil. Dabei vertritt Ryan die Position, dass Strategie und Anpassung in ihrem Kern menschenzentriert sind, und Technologien lediglich als Werkzeuge dienen.
Ukraine verfolgt "Zersetzungsstrategie"
Der zentralisierte Top-down-Ansatz des russischen Militärs sei hier nachteilig. Die Ukraine habe einen Vorteil, da ihre Kommunikationsnetzwerke flache Hierarchien aufweisen. Dadurch sei die ukrainische Armee lernfähiger, insbesondere auf taktischer Ebene, die besser auf Veränderungen ausgelegt sei. Das heißt laut Ryan nicht, dass Russland sich gar nicht anpasse oder anpassen könne, sondern nur, dass dies länger dauere und oft ineffizienter sei.
Die Ukraine verfolge eine Strategie der "Zersetzung". Insgesamt sieben Schlüsselkomponenten erkennt Ryan in dieser Zersetzungsstrategie der Ukraine: Zielstrebigkeit, die globale Einflusskampagne, integrierte zivil-militärische Aktionen, ausländische Unterstützung, nationale Mobilisierung von Menschen und Ressourcen, die Führung eines gerechten Krieges sowie kontinuierliches Lernen und Anpassen.
Ryan zufolge zielt Kiew damit darauf ab, Moskaus Fähigkeit, Krieg zu führen, militärisch, politisch und - über den Westen - wirtschaftlich zu untergraben. So will die Ukraine sicherstellen, dass Russland seine Siegestheorie nicht verwirklichen kann. Er schreibt, dass ein Sieg für Russland "die Unterwerfung des ukrainischen Staates durch eine Kombination aus Besatzung und politischer Anpassung" bedeute. Kiew dagegen müsse "Russlands Siegestheorie" lediglich durch "Willen" und "Ausdauer" untergraben.
Ryan wagt zwar keine Prognose dazu, wie der Krieg ausgehen wird. Allerdings präsentiert der Militärstratege ein Rezept für einen nachhaltigen Sieg der Ukraine. Dabei erklärt er auch, wie eine erfolgreiche Unterstützung durch den Westen aussehen müsste. Dafür formuliert Ryan eine Reihe von Teilzielen, darunter die Einbindung der Ukraine in eine breitere Sicherheitsarchitektur, entweder bilateral oder multilateral, die in den Beitritt zur NATO mündet. Die Fähigkeit der Ukraine, der russischen Aggression zu widerstehen, hängt also in überwältigendem Maße von westlichen Ländern und deren Unterstützung ab. Diese Unterstützung lässt laut Ryan allerdings zu wünschen übrig.
Risikobereitschaft braucht es Führungskompetenz
Die Ursache, so Ryan, sei die fehlende Führungskompetenz der Länder. Diese könnten auch aus der Anpassungsfähigkeit der Ukraine lernen. So kritisiert Ryan neben dem langsamen Tempo der Unterstützung, dass der Westen eine Strategie der Selbstabschreckung verfolge: "Das führt uns zurück zu dem Schock, den die Kursk-Offenisve ausgelöst hat: Viele Politiker waren schockiert, weil sie diese Art von kühner Entscheidungsfindung nicht mehr gewohnt sind." Diese Denkweise müsse sich ändern.
Für mehr Risikobereitschaft brauche es vor allem Führungskompetenz, sagt Ryan im Gespräch mit ntv.de. "Dazu gehört, politische Maßnahmen zu ergreifen und die Leute dann davon zu überzeugen, dass es die richtigen sind - und nicht einfach fragen, was die Leute wollen, und versuchen, das umzusetzen. Das ist keine Führung und es ist nicht strategisch", kritisiert der Militärstratege. Er warnt in seinem Buch vor den Folgen der Hasenfüßigkeit des Westens: "Diese Praxis der Selbstabschreckung muss nach dem Krieg untersucht und angegangen werden. Strategen in Peking und Teheran beobachten sie jedenfalls aufmerksam."