Woidke im ntv.de-Interview: "Diese Wahl ist die größte politische Herausforderung meines Lebens"

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Beschwingt begrüßt der 62-jährige Dietmar Woidke in seinem Büro in der Staatskanzlei zum Interview mit ntv.de. Brandenburgs Ministerpräsident ist gut gelaunt, auch wenn seine SPD laut Umfragen noch hinter der AfD liegt. Woidke hat die Brandenburgerinnen und Brandenburger vor die Wahl gestellt: Nur wenn die SPD stärkste Kraft bleibt, bleibt der im Land beliebte Regierungschef im Amt. Die alles-oder-nichts-Strategie könnte aufgehen - und Woidke das Land noch länger regieren als seine sozialdemokratischen Amtsvorgänger Manfred Stolpe und Matthias Platzeck. Elf Jahre macht er den Job schon und berichtet vor Interview-Beginn vom täglichen Sport und weitgehendem Verzicht auf Alkohol, um den Anforderungen auch weiterhin gerecht werden zu können.

ntv.de: Herr Woidke, wir haben uns im Vorgespräch darüber ausgetauscht, dass der Posten eines Ministerpräsidenten durchaus fordernd ist. Stichwort: Termindichte. Sie haben dennoch genug Spaß am Amt für fünf weitere Jahre?

Dietmar Woidke: Spaß ist das falsche Wort. Aber es macht Freude, zu sehen, wie die Dinge vorangehen. Wenn ich sehe, was wir Brandenburger uns unter den großen Schwierigkeiten der 1990er und 2000er Jahre bis heute aufgebaut haben: Da können wir sehr stolz drauf sein. Unsere Wirtschaft wächst nicht nur schneller als die anderer ostdeutscher Bundesländer, sondern auch im Vergleich zum Westen. Zu erleben, wie all die Arbeit Früchte trägt, macht mich stolz auf unser Land Brandenburg und die Menschen, die hier anpacken. Daraus ziehe ich die Energie, auch weiter intensiv im und für das Land zu arbeiten.

Wir haben viele Leser im Osten, aber naturgemäß noch mehr im Westen. Wie würden Sie denen die Mentalität der Brandenburger Landbevölkerung beschreiben, die durchaus eigen sein kann?

Dazu gehöre ich ja selber: Ich bin in einem 100-Einwohner-Dorf aufgewachsen, auf einem Bauernhof zusammen mit meiner Uroma, den Großeltern, meinen Eltern und meinem Bruder. Das verbindende Element der Brandenburgerinnen und Brandenburger ist eine eher norddeutsche Mentalität. Wir freuen uns mehr nach innen und sind eher zurückhaltend. Zugleich arbeiten wir hart, sind fleißig und zuverlässig. Und unser Wort gilt.

Erklärt der nicht ausgeprägte Hang zum Enthusiasmus, warum die politische Stimmung laut Umfragen schlecht ist - trotz nachweislich vieler guter Entwicklungen?

Das hängt sicherlich ein bisschen damit zusammen. Ich stehe ja selbst auch eher für Handwerk als für Mundwerk. Deswegen sieht man mich selten in Talkshows. Aber man muss den Menschen auch zeigen, was alles Gutes entsteht. Das ist manchmal schwierig auch weil man in einigen Gegenden nicht einmal mehr eine gedruckte Regionalzeitung abonnieren kann, selbst wenn man es wollte.

Politik kann Erfolge feiern und trotzdem Menschen vergrätzen. Wegen Projekten wie der Ansiedlung von Tesla in Grünheide und dem ICE-Reparaturwerk in Cottbus klagen kleine Betriebe über einen verschärften Wettbewerb um die ohnehin knappen Arbeitskräfte, weil die großen Unternehmen besser zahlen.

Erstens wären diese Ansiedlungen ohne unsere Handwerksbetriebe gar nicht möglich gewesen. Sie bringen den Handwerkern Aufträge. Zweitens sind starkes Handwerk und starke Industrie zwei Seiten derselben Medaille. Auch kleinere Betriebe haben viele Vorzüge, die Arbeitnehmer schätzen. Und drittens finde ich es als Sozialdemokrat gut, wenn es einen Wettbewerb gibt um die besten Köpfe und Hände und sich die Betriebe um die Menschen bemühen.

Wieso?

Weil es in Brandenburg viele Jahre andersherum war. Selbst für Lehrberufe brauchte es seinerzeit oft ein ordentliches Abitur. Menschen mussten sich umqualifizieren oder sind ganz aus der Region weggegangen, um Arbeit zu finden. Manch einer hat seit der Wiedervereinigung drei Berufe erlernt, um irgendwann endlich in der neuen Wirtschaftswelt anzukommen. Die Menschen mussten sich das, was sie haben, schwerer erarbeiten als im Westen. Deshalb ist auch die Angst größer, das alles wieder zu verlieren. Ihre Erfahrung sagt den Ostdeutschen: Wandel kann auch etwas Schlechtes bedeuten.

Gerade das Handwerk hatte es viele Jahre schwer. Der Malermeister und die Friseursalon-Inhaberin sagen, sie könnten im Wettbewerb mit den Großen nicht höhere Löhne zahlen, weil die Menschen hier die Kaufkraft nicht haben. Und dann will die SPD auch noch den Mindestlohn weiter anheben…

Ein höherer Mindestlohn schafft Kaufkraft und sorgt so für wirtschaftlichen Aufschwung. Gutes Geld wird in der Industrie verdient und kommt auch dem Handwerk und dem Dienstleistungssektor zugute. Brandenburg ist noch immer in einem Aufholprozess, nachdem vor 30 Jahren so viel Industrie verschwunden ist. Meine Heimat Lausitz ist aber das beste Beispiel, wie es geht: Wir werden es schaffen, mehr neue Industriearbeitsplätze in die Region zu bringen, als durch den Kohleausstieg bis 2038 verloren gehen.

Und wo kommen die Arbeitskräfte dafür her?

Wir müssen die Kinder an den Brandenburger Schulen stärker an die regionale Wirtschaft heranführen. Und der Handwerksmeister, der im Costa-Rica-Urlaub einen fähigen Mechaniker kennenlernt, muss den hier schnell und unkompliziert anstellen können. Wir schaffen eine One-Stop-Agency, wo der Unternehmer dann nur einmal vorbeimuss und die sich um das Visum kümmert und klärt, welche Papiere es braucht. Unsere Behörden waren lange Zeit darauf ausgerichtet, Menschen aus dem Ausland aus dem Arbeitsmarkt eher rauszuhalten. Jetzt brauchen wir die 180-Grad-Wende, übrigens auch für die Zuwanderer, die schon hier sind und schnell in Arbeit gebracht werden müssen. Und viele von ihnen sind schon in Arbeit und tragen zu unserer Wirtschaft bei. Ich war kürzlich bei einem großen Logistikunternehmen. Der Chef dort sagte mir: "Ohne die Menschen aus dem Ausland, auch Geflüchtete, könnte ich hier dichtmachen."

Sie haben in Ihren Interviews das Erstarken von AfD und BSW allein an der Performance der Bundesregierung festgemacht. Sind Sie sich da so sicher? Viele Brandenburger sind frustriert über Dinge des Alltags, die sehr wohl in der Hand von Land und Kommunen liegen, etwa die Situation der Schulen.

In Schulgebäude wurde sehr viel investiert. Da sind wir sehr gut vorangekommen. Im allgemeinen Bildungsbereich müssen wir ganz klar besser werden. Schule muss sich auf Bildung konzentrieren, deshalb auch dort weniger Bürokratie. Immerhin haben wir es geschafft, 98 Prozent der Lehrerstellen zu besetzen. Wir haben schon in den letzten Jahren die Lehrerausbildung massiv ausgebaut. Das werden wir fortsetzen. Wir müssen uns an den Grundschulen auf die Grundfertigkeiten Deutsch und Mathematik konzentrieren und an den weiterführenden Schulen die Naturwissenschaften voranbringen. Aber wenn es um den Fachkräftemangel geht, sage ich auch den Betrieben: Ihr müsst ebenfalls ausbilden.

Es gibt ja innovative Ansätze wie Stipendien für Lehramtsstudenten, die verpflichtend an Bedarfsschulen gehen, aber …

Und wir haben 363 Lehrer, die nicht in Pension gegangen oder zurückgekehrt sind, weil sie eine Verantwortung für die kommenden Generationen spüren.

… es gibt Aspekte, die sind einfach schlecht gemanagt: Über Monate waren die Brandenburger Lehrkräfte mit den vielen Schülern aus der Ukraine auf sich allein gestellt, hatten kein Lehrmaterial und sich in ihrer Freizeit Deutsch als Fremdsprache via Youtube draufgepackt.

Ja, Russlands Überfall auf die Ukraine hat natürlich auch an Brandenburgs Schulen Spuren hinterlassen. In kurzer Zeit Tausende Schüler zu integrieren, war und bleibt eine riesige Aufgabe. Ich bin wahnsinnig stolz, dass die Brandenburgerinnen und Brandenburger nicht nur ihre Türen, sondern auch ihre Herzen geöffnet haben. Ich bin froh, dass wir diese schwierige Situation gemeinsam mit den Bürgermeistern und Landräten bewältigen. Dennoch: Manches hätte besser laufen müssen.

Ein Riesenthema der Landespolitik ist auch die medizinische Versorgung in strukturschwachen Regionen wie Elbe-Elster, Prignitz und Uckermark. Muss Politik hier nicht auch die Erwartungen herunterschrauben, um nicht immer neue Enttäuschungen zu produzieren? Die Ärzteabdeckung wird eher nicht nochmal so gut wie in den 80er und 90er Jahren.

Ohne gute Gesundheitsversorgung ist alles andere nichts. Egal, was wir sonst noch für die wirtschaftliche Entwicklung einer Region unternehmen. Deshalb bilden wir künftig mehr Medizinerinnen und Mediziner denn je aus. Wir haben vor zehn Jahren mit der Medizinischen Hochschule Brandenburg begonnen und starten jetzt, zusammen mit Sachsen, die Medizinische Universität Lausitz in Cottbus. Zum Wintersemester 2026 beginnen die ersten Studierenden. Mit speziellen Programmen werden wir die jungen Ärztinnen und Ärzte auch in die Fläche des Landes bringen. Ich bin sicher, dass in einigen Jahren die Versorgung besser und die Delle durch altersbedingt bald ausscheidende Ärzte ausgeglichen wird. Wir unterstützen unsere 66 Kliniken im Land, weil weniger Ärzte eine eigene Praxis anstreben. Kein anderes Bundesland gibt gemessen an den Einwohnern so viel Geld an seine Krankenhäuser, weil sie in der Fläche auch Ankerzentren für die ambulante Versorgung sind.

Die landespolitischen Themen werden unter anderem vom Ukraine-Konflikt überlagert. Wie erklären Sie sich die Haltung vieler Brandenburger, die Waffenlieferungen und die konsequente NATO-Bindung der Bundesregierung skeptisch sehen?

Es gab und gibt eine tiefe Dankbarkeit der Ostdeutschen in Richtung Russland, das sich 1989, 1990 einer Wiedervereinigung nicht in den Weg gestellt hat. Gorbatschow hatte die Panzer in den Kasernen gelassen. Hinzu kommen große Sorgen, wie sich der Krieg in Europa weiterentwickelt. Ich teile die Haltung der Menschen, dass es allein mit Waffenlieferungen und anderen Hilfen für die Ukraine nicht getan sein kann. Deutschland muss immer wieder versuchen, auf eine diplomatische Lösung hinzuwirken. Ich bin Bundeskanzler Olaf Scholz sehr dankbar, dass er das auch nochmal deutlich gemacht hat. Wir kommen nicht drum herum, mit Russland zu reden. Leider verweigert sich Präsident Putin bisher ernsthaften Friedensgesprächen, die eine freie und souveräne Ukraine nicht von vornherein ausschließen. Der Schlüssel zum Frieden liegt bei Putin, der die Ukraine mit diesem furchtbaren Krieg überzogen hat.

Sie wollen nicht Ministerpräsident bleiben, wenn die AfD stärkste Partei im Landtag wird. Warum geben Sie deren Wählern so viel mehr Macht als der übergroßen Mehrheit, die keine rechtsradikale Partei wählt?

Ich mache damit erstens deutlich, dass es bei dieser Wahl nur um eines geht, nämlich unsere Heimat Brandenburg. Zweitens will ich erreichen, dass sich die Menschen ganz genau angucken, wen sie da wählen. Drittens kann ich mich an keinen Ministerpräsidenten erinnern, der als Spitzenkandidat von einer anderen Partei überholt wurde und dennoch im Amt geblieben ist. Wenn ich fünf Jahre weitermachen soll, möchte ich auch das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler ausgesprochen bekommen. Eine in Teilen rechtsextremistische Partei als stärkste Kraft im Land würde alles infrage stellen, was wir in den vergangenen Jahren erreicht haben, seien es die Investitionen in Milliardenhöhe oder die zugewanderten Fachkräfte. Es gibt Kliniken, in denen die Hälfe der Ärztinnen und Ärzte aus dem Ausland kommt!

Mit Verlaub, es wirkt auch etwas bockig, zu sagen: "Wenn ihr nach all unseren Leistungen diese Partei wählt, macht euren Mist doch allein weiter!" Muss ein Kapitän nicht gerade in stürmischer See an Bord bleiben?

Das hat mit bockig wenig zu tun. Diese Wahl ist auch eine Abstimmung über meine Arbeit nach elf Jahren im Amt. Ich will mich nachher nicht rausreden, die Wahl sei nur wegen der Stimmung im Bund gegen mich ausgegangen, um im Amt bleiben zu können. Mehr als die Hälfte der befragten Wählerinnen und Wähler will mich im Amt behalten. Dann sollten sie auch SPD wählen.

Viele Menschen halten Warnungen vor der Böswilligkeit der AfD für übertrieben. Was droht Brandenburg aus Ihrer Sicht?

Die Brandenburger AfD ist ein in Teilen besonders extremistischer Landesverband. Die wollen allen Vereinen und Organisationen, die für Vielfalt und Integration stehen, die Gemeinnützigkeit und damit die finanzielle Grundlage entziehen. Das betrifft die Kirchen, Sportvereine, Feuerwehren und Fördervereine. Das hat die AfD im Landtag tatsächlich beantragt. Die AfD will, dass es dem Land schlechter geht, um davon zu profitieren. Ihr Spitzenkandidat hat offen gesagt, er hoffe auf Chaos und Unregierbarkeit nach der Wahl. Weil er sich davon verspricht, an die Macht zu kommen. Die Basis all dessen, was Brandenburg erreicht hat, sind Demokratie, Weltoffenheit und Freiheit. Dafür werbe ich.

Sowohl die AfD als auch CDU-Spitzenkandidat Jan Redmann frohlocken, zusammen mit Ihnen könnten die Wähler gleich die Ampelkoalition im Bund abwählen. Die SPD würde demnach kollabieren, wenn Sie verlieren. Sind Sie der letzte Stabilitätsanker der Bundesregierung?

Mir geht es allein um Brandenburg. Und ich habe ein wirklich gutes Gefühl, was die Landtagswahlen betrifft. Es gibt nur eine politische Kraft, die die AfD in Brandenburg stoppen kann: Das ist die Brandenburger SPD und ich bin ihr Vorsitzender. Diese Wahl ist die größte politische Herausforderung meines ganzen Lebens. Ich nehme diese Herausforderung nicht nur an, ich werde sie auch bestehen.

Mit Dietmar Woidke sprach Sebastian Huld

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