Friedens-Mediatorin: "Putin muss nicht persönlich am Verhandlungstisch sitzen"

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Erstmals seit 2022 verhandeln die Ukraine und Russland wieder direkt über einen möglichen Frieden. Weder der russische Präsident Putin noch sein ukrainischer Amtskollege Selenskyj waren bei den Gesprächen in Istanbul dabei. Warum das gar nicht notwendig ist, erklärt Friedens-Mediatorin Luxshi Vimalarajah im Gespräch mit ntv.de.

ntv.de: Bei den Gesprächen in Istanbul haben Russland und die Ukraine einen Austausch von Kriegsgefangenen vereinbart. Die Verhandlung dauert nur wenige Stunden. Inwiefern ist das schon ein Erfolg in einem derart verhärteten Konflikt?

Luxshi Vimalarajah: Angesichts der verhärteten Fronten kann bereits der Umstand als Erfolg gewertet werden, dass es nach drei Jahren überhaupt zu einem direkten öffentlichen Austausch gekommen ist. Gefangenenaustausch und andere humanitäre und Wirtschaftsthemen gelten traditionell als Türöffner in festgefahrenen Konflikten - hier lassen sich am ehesten gemeinsame Interessen identifizieren. In der Regel nähert man sich in Verhandlungen schrittweise von einfachen zu komplexeren Themen. Solche Themen können auch als Ausgangspunkt für erste vertrauensbildende Maßnahmen dienen. Wie verbindlich die getroffene Vereinbarung tatsächlich ist, wird sich jedoch erst in der konkreten Umsetzung zeigen.

Sie sagen, jeder Konflikt ist durch Verhandlungen lösbar. Auch Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. Wie?

Wenn bestimmte Grundvoraussetzungen erfüllt sind, lässt sich jeder Konflikt durch konstruktive Konfliktbearbeitung und gezielte Kommunikationstechniken lösen - auch dieser. Durch strukturierte Gesprächsführung können Vermittler die Parteien dazu bewegen, gemeinsame Interessen zu identifizieren, den Konflikt zu "humanisieren", Perspektivwechsel vorzunehmen, langfristig Vertrauen aufzubauen und einvernehmliche Lösungen zu entwickeln.

Und wie können Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zu Frieden führen?

Zunächst müssen die Parteien von ihren Maximalforderungen abrücken und anerkennen, dass jede Seite legitime Interessen verfolgen könnte. Entscheidend ist, sich auf einer gemeinsamen Grundlage zu verständigen, etwa das internationale Völkerrecht. Der Weg dorthin wird lang und sehr holprig sein. Aber es ist möglich, vorausgesetzt die Rahmenbedingungen stimmen.

Welche?

Friedensverhandlungen finden nicht zwischen Freunden, sondern zwischen Feinden statt. Da ist Verhandlungsbereitschaft eine Frage des Willens.

Wie meinen Sie das?

Es braucht den Willen, aus der Eskalationsspirale auszubrechen. Eine militärische Pattsituation kann beispielsweise Auslöser für Friedensverhandlungen sein. Die Konfliktparteien müssen Verhandlungen als reale Option zur Konfliktlösung sehen, nicht als bloßes taktisches Mittel. Wenn sich die Parteien öffentlich stark festgelegt haben und sich vor ihren eigenen Anhängern in Stellung bringen, ist das hinderlich für ernsthafte Verhandlungen. Das sehen wir jetzt gerade.

Wie können solche Verhandlungen aussehen?

Verhandlungen sind kein einmaliges Ereignis. Sie sind ein Prozess - oft sehr langwierig. Es gibt verschiedene Phasen: von ersten vertraulichen Gesprächen, also sogenannten "talks about talks" über Deeskalation, Waffenstillstand und Vertrauensbildung hin zu offiziellen Verhandlungs- und Implementierungsphasen. Verhandlungen sind selten linear, das heißt, wir müssen mit Stillstand, gar mit Scheitern rechnen. Und dass die Parteien gemeinsam am Verhandlungstisch sprechen, passiert oft gar nicht. In vielen Fällen gibt es keine physischen Treffen der Parteien. Mediatoren führen Pendelgespräche zwischen den Parteien und versuchen, Vertrauen aufzubauen und gemeinsame Interessen auszuloten.

Wie funktioniert das?

Im Ukraine-Konflikt beobachte ich einen machtbasierten Ansatz und ein sehr kompetitives Verhandlungsverständnis. Beim machtbasierten Ansatz geht es darum, Druck auszuüben, also der Verhandlungsdruck wird durch Sanktionen, diplomatische Isolation oder militärische Drohkulissen und Ultimaten erhöht. Die Parteien halten weiter daran fest, die gegnerische Partei, also den Feind, besiegen zu wollen. Aber solange die Parteien an der Kriegslogik festhalten, ist eine Annäherung unmöglich. Propagandamittel wie die Entmenschlichung und Dämonisierung des Gegners oder auch einfach Drohungen, Ultimaten und unrealistische Forderungen sind Gift für ernsthafte Gespräche. Daraus entstehen oft Lose-Lose-Situationen.

Gibt es auch alternative Herangehensweisen?

In der Verhandlungspraxis wird zwischen interessenbasierten und machtbasierten Ansätzen unterschieden. Bei interessenbasierten Ansätzen stehen Dialog und Interessenausgleich im Mittelpunkt.

Luxshi Vimalarajah ist Senior Peace Mediation Advisor bei der Berghof Foundation. Luxshi Vimalarajah ist Senior Peace Mediation Advisor bei der Berghof Foundation.

Luxshi Vimalarajah ist Senior Peace Mediation Advisor bei der Berghof Foundation.

(Foto: Berghof Foundation)

Was meinen Sie mit Interessenausgleich?

Konfliktparteien formulieren oft feste unvereinbare Positionen wie zum Beispiel territoriale Ansprüche. Hinter diesen Positionen stehen aber häufig verhandelbare Interessen. Diese zu identifizieren, ist die Schlüsselkompetenz der Mediatoren. Denn nur auf Grundlage gemeinsamer Interessen lassen sich Verhandlungsprozesse konstruktiv und nachhaltig gestalten.

Welche Interessen können das sein?

Dabei kann es sich um Interessen in den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft oder humanitäre Fragen handeln - etwa um Sicherheitsgarantien, einen Waffenstillstand, die Freilassung von Gefangenen oder Beendigung des Krieges.

Hat dieser Ansatz schon einmal einen Konflikt gelöst?

Ja, ein klassisches Beispiel ist das Camp-David-Abkommen von 1978 zwischen Israel und Ägypten. Der Streitpunkt damals war, dass beide Länder die Sinai-Halbinsel für sich beanspruchten. Es war eine vertrackte Situation. Lange Zeit konnte man keine Erfolge erzielen. Erst als man auf die wahren Interessen geschaut hat, wurde eine Lösung gefunden. Für Ägypten stand seine Souveränität im Vordergrund. Israel ging es um Sicherheit vor einem Überraschungsangriff. Deshalb war die Lösung: Der Sinai wurde entmilitarisiert, Ägypten erhielt seine Souveränität und Israel strategische Sicherheitsgarantien.

Und wie kann das im Ukraine-Konflikt funktionieren?

Das ist ein schwieriger Aushandlungsprozess. Dafür müsste eine Interessenanalyse gemeinsam mit den Parteien gemacht werden. Und diese Aushandlung müsste am besten unter Ausschluss der Öffentlichkeit passieren. Aber vorher müsste man die Verhandlungsparadigmen verschieben, also von einer machtbasierten auf den interessenbasierten Ansatz umschwenken. Dazu braucht es aber auch Drittparteien als allparteiliche Vermittler, um gemeinsam eine Lösung zu finden.

Die Gespräche in Istanbul sind trilateral: Die USA und auch die Türkei sprechen als Vermittler zwischen den Konfliktparteien. Aber auch die Vermittlerstaaten haben Interessen - wie können sie trotzdem vermitteln?

So sahen die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland 2022 im belarussischen Brest aus. Wladimir Medinski sitzt rechts in der Mitte. So sahen die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland 2022 im belarussischen Brest aus. Wladimir Medinski sitzt rechts in der Mitte.

So sahen die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland 2022 im belarussischen Brest aus. Wladimir Medinski sitzt rechts in der Mitte.

(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Die Allparteilichkeit in der Vermittlung ist diskutabel. In meinem Arbeitsfeld stellt sich immer wieder die Frage, ob Allparteilichkeit notwendig ist, um erfolgreiche Friedensvermittlung leisten zu können. Mein Standpunkt ist: Allparteilichkeit kann besonders dann hilfreich sein, wenn es um komplexe Verhandlungen geht - etwa dort, wo verhärtete Positionen und nationale Interessen der Konfliktparteien sowie involvierter Drittstaaten aufeinandertreffen. Ein allparteiischer Vermittler hat in solchen Fällen eher die Chance, als übergeordnete, technisch-moderierende Instanz zu agieren. Er kann den Kommunikationsfluss strukturieren, den Prozess steuern und dabei unabhängig von nationalen Eigeninteressen handeln. Allerdings braucht es dafür eine klare politische Flankierung, nur so erhält die Vermittlung die nötige Legitimität und Durchsetzungskraft.

In Istanbul verhandelten nun Delegationen aus der zweiten Reihe. Ist das vielleicht auch eine Chance in einem frühen Stadium der Verhandlungen?

Es kommt darauf an. Es müssen Entscheidungsträger mit am Verhandlungstisch sitzen. Wenn die Verhandlungspersonen kein Mandat haben, Entscheidungen zu treffen, bringt das nichts. Wenn die Verhandler keine Entscheidungsmacht haben oder zumindest über bestimmte Fragen wie Waffenstillstandsvereinbarungen entscheiden können, dann sind die Verhandlungen eine Farce.

Putin verhandelt in Istanbul nicht mit - sind die Verhandlungen also eine Farce?

Dem würde ich zumindest teilweise widersprechen. Putin muss nicht persönlich am Verhandlungstisch sitzen oder bei allen Verhandlungen anwesend sein. Häufig sind auch Chefunterhändler aus der zweiten und dritten Reihe in Vorverhandlungen und Sondierungsphasen involviert, um die Gesprächsbedingungen auszuloten. Dies kann durchaus eine Chance bieten, um Fortschritte auf technischer Ebene zu erzielen. Doch für solche Verhandlungen ist es entscheidend, dass die russischen Unterhändler die Rückendeckung von Putin haben. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die ausgehandelten Vereinbarungen auch tatsächlich umsetzbar sind - hierfür ist politische Unterstützung auf höchster Ebene unerlässlich.

Wie erfolgversprechend wäre ein Gespräch zwischen Putin und Selenskyj?

Wenn Putin und Selenskyj aufeinandertreffen, wird es erst einmal nicht viel Bewegung von beiden Seiten geben. Da haben die Menschen aus der zweiten und dritten Reihe vielleicht mehr Spielraum. Ich habe viele Verhandlungsprozesse als Mediatorin mitgestaltet und oft ist die Führung bis zur Unterzeichnung gar nicht mit am Tisch. Es ist also nicht zwingend notwendig, Putin dabei zu haben, es ist aber auf jeden Fall wünschenswert und spätestens, wenn der Friedensvertrag unterzeichnet wird, auch erforderlich.

Darf man mit Diktatoren wie Putin sprechen?

Ja. Wir müssen sogar. Denn wir sind dazu gezwungen. Die Antwort ist unbequem. Wir können uns nicht aussuchen, mit wem wir sprechen, wenn solche Akteure Schlüsselfiguren für die Beendigung von Konflikten sind. Gesprächskanäle müssen weiter offengehalten werden, auch zu schwierigen Akteuren - auch von uns in Deutschland. Nur weil man mit Putin spricht, begeht man noch keinen Landesverrat. Wir haben gerade erst ein mediales Debakel um Ralf Stegners Treffen mit russischen Vertretern in Aserbaidschan gesehen. Das ist nicht dienlich. Gespräche auch mit schwierigen Akteuren wie Diktatoren und Terroristen hat es immer in der Geschichte gegeben.

Wann hat das mal zum Erfolg geführt?

Die ehemalige Premierministerin Margaret Thatcher vertrat lange den Standpunkt: Mit Terroristen wird nicht verhandelt. Doch erst als ihre Regierung - unter anderem über geheime Kanäle - Gespräche mit Vertretern der IRA aufnahm, kam Bewegung in den Nordirland-Konflikt. Unter ihren Nachfolgern, zunächst John Major und später Tony Blair, kam es zu indirekten und schließlich offenen Verhandlungen, die maßgeblich zur Lösung des Konflikts beitrugen. Deshalb gilt: Auch mit Diktatoren und terroristischen Gruppen muss gesprochen werden - nicht aus Sympathie, sondern aus pragmatischer Notwendigkeit. Im Mittelpunkt muss das Ziel stehen, das Leid der Zivilbevölkerung zu beenden, das Töten und Blutvergießen zu stoppen und langfristig den Weg für eine nachhaltige Konfliktlösung zu ebnen.

Mit Luxshi Vimalarajah sprach Rebecca Wegmann

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