Interview mit Linken-Chefin: "Friedrich Merz ist der Klassenfeind"

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Wenn die Linke an diesem Freitag in Chemnitz zum Bundesparteitag zusammenkommt, dürfte die Stimmung ziemlich gut sein: Bei der Bundestagswahl hat die Partei - im Vergleich zu den Umfragewerten in den Monaten davor - ein spektakulär gutes Ergebnis erzielt. Das Ziel waren drei Direktmandate, um den Sprung in den Bundestag zu schaffen, am Ende wurden es sechs. In den Umfragen steht die Linke aktuell bei 10 Prozent. Und am Dienstag sah sich die Union gezwungen, mit der Linken-Fraktion über die Änderung der Tagesordnung zu verhandeln, damit Friedrich Merz noch am selben Tag zum Kanzler gewählt werden konnte.

Grundsätzlich sei die Linke zu Gesprächen mit der CDU bereit, sagt Parteichefin Ines Schwerdtner im Interview mit ntv.de. Sie sagt aber auch: "Aus meiner Sicht ist Merz seit seinem Pakt mit der AfD verbrannt."

ntv.de: Ohne die Linke hätte es am Dienstag keinen zweiten Wahlgang gegeben und Friedrich Merz hätte sich nach dem Scheitern am Morgen nicht noch am selben Tag zum Kanzler wählen lassen können. Warum haben Sie ihm diese zweite Chance gegeben?

Ines Schwerdtner: Es geht hier nicht um Merz. Aus meiner Sicht ist Merz seit seinem Pakt mit der AfD verbrannt. Wir wollten Chaos in den kommenden Tagen verhindern und Klarheit schaffen: Entweder gibt es eine Kanzlermehrheit oder es gibt keine.

Seit Oktober 2024 bilden Ines Schwerdtner und Jan van Aken das Führungsduo der Linken. Seit Oktober 2024 bilden Ines Schwerdtner und Jan van Aken das Führungsduo der Linken.

Seit Oktober 2024 bilden Ines Schwerdtner und Jan van Aken das Führungsduo der Linken.

(Foto: picture alliance / SZ Photo)

Der neue Unionsfraktionschef Jens Spahn und der neue CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann haben ausdrücklich auch den Linken dafür gedankt, dass sie den zweiten Wahlgang ermöglicht haben. War das eine Bedingung von Ihnen?

Unsere Bedingung war, dass es keine weiteren Absprachen mit der AfD gibt. Die CDU muss sich entscheiden: Arbeiten sie mit einer gesichert rechtsextremen Partei zusammen oder wollen sie etwas für die Menschen im Land verändern. Diese Grundsatzentscheidung kann ich den Christdemokraten nicht abnehmen.

Es könnte sein, dass Union und SPD Sie auch in den nächsten Jahren noch brauchen werden, bei Grundgesetzänderungen, zum Beispiel bei der Schuldenbremse. Gab es zwischen Ihnen und Friedrich Merz schon einen Kontakt, gibt es eine Gesprächsbasis?

Wir haben Friedrich Merz am Dienstag gratuliert und ihm mitgegeben, dass er uns noch brauchen wird.

Sie hatten noch kein direktes Gespräch mit Merz, auch am Dienstag nicht?

Nein. Faktisch ist der Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU seit Dienstag jedoch Geschichte. Der ist auch ziemlich aus der Zeit gefallen und wird auf Länderebene ohnehin schon lange übergangen. Aber ich verstehe natürlich, dass es für Merz ein ideologisches Hemmnis gibt. Er hat mit der Schuldenbremse und dem Sondervermögen schon vor seiner Wahl zum Bundeskanzler zwei zentrale Versprechen aus dem Wahlkampf gebrochen und soll nun auch noch mit den Linken verhandeln. Das ist ein bisschen viel für die CDU. Aber irgendwann wird die Realität auch bei Merz Einzug halten. Die neue Koalition hat sich ja in den Koalitionsvertrag geschrieben, die Schuldenbremse zu reformieren.

Aus taktischen Gründen könnte es für Sie unklug sein, mit der Union zu sprechen, denn für viele Ihrer Anhänger stellt Merz ein Feindbild dar.

Aus unserer Partei hat niemand Lust, Verhandlungen mit Friedrich Merz zu führen. Aber wir reden wenn nötig mit allen demokratischen Parteien. Zum Beispiel, damit es zu einer Reform der Schuldenbremse kommt. Ich werde nicht ruhen, bis diese Schuldenbremse reformiert ist, weil die Kommunen und die Länder dringend Geld brauchen. Wenn wir den Kommunen helfen können, dann setze ich mich auch mit dem Klassenfeind an einen Tisch.

Friedrich Merz ist der Klassenfeind?

Ja, schon. Ich meine, der Mann war bei Blackrock. Das kann man sich kaum ausdenken, dass so jemand Kanzler wird.

Die Linke hat in den vergangenen Monaten ein echtes Comeback hingelegt. Wie haben Sie das geschafft?

Wir hatten die richtige Strategie und haben als Partei gut zusammengearbeitet. Strategisch haben wir uns auf wenige Themen fokussiert und an vielen Haustüren geklingelt. Das war die Grundlage, um nah bei den Menschen und ihren Alltagssorgen zu sein. Unser Team aus "Silberlocken" und Spitzenkandidatinnen hat wunderbar funktioniert. Als dann noch Merz mit der AfD paktierte, hat Heidi Reichinnek mit ihrer Rede im Bundestag deutlich gemacht: Wir sind die Brandmauer!

Dazu kam die Schwäche von SPD und Grünen. All dies hat zusammengespielt, sodass sich eine Dynamik entwickelt hat, von der wir im Oktober, als Jan van Aken und ich zu Parteivorsitzenden gewählt wurden, nicht hätten träumen können.

Aber ohne Merz hätte es nicht geklappt.

Wir waren schon vorher in den Umfragen bei mindestens 5 Prozent. Das haben wir selber geschafft. Aber die politische Dynamik hat uns darüber hinaus getragen. Damit haben wir noch ganz andere Wählerschichten erreicht. Ich glaube, fast jeder zweite Deutsche hat Heidis Rede gesehen. Jetzt ist sie die beliebteste Frau in der deutschen Politik.

Was wollen Sie mit Ihrer neuen Stärke anfangen?

Das werden wir auf dem Parteitag besprechen. Jan van Aken und ich haben einen Leitantrag vorgelegt, der den neuen Geist atmet. Wir erklären nicht auf 50 Seiten die Welt, sondern wir sagen, wo es mit unserer Partei hingehen soll, was wir mit den über 100.000 Mitgliedern machen wollen. Denn wir wollen unseren Wahlerfolg verstetigen.

Heißt?

Wir wollen ein umfassendes Bildungsprogramm auflegen, um die Kampagnenfähigkeit der Partei auszubauen. Was uns jetzt stark gemacht hat, das wollen wir vertiefen. Wir wollen mit den neuen Mitgliedern über unsere Grundüberzeugungen sprechen. Und es soll um ganz praktische Fragen gehen: Wie baut man einen Kreisverband auf? Denn wir wollen uns in der Breite verankern - in westdeutschen Flächenländern, und wieder in Ostdeutschland. Das ist enorm viel Arbeit. Darauf wollen wir die Partei einstimmen. Die Klammer all dessen ist, dass wir sagen: Wir sind eine organisierende Klassenpartei. Wir sind eine Partei, die Klasseninteressen vertritt.

Was sind denn "Klasseninteressen"?

Wir machen Politik für die Breite der Bevölkerung. Bernie Sanders würde von den "99 Prozent" sprechen. Es bedeutet, Politik im Interesse der breiten Mehrheit zu verfolgen - nicht für die ganz Wenigen, die auch in Krisenzeiten noch profitieren, während für die allermeisten Menschen die Mieten steigen und die Löhne stagnieren. Innerhalb dieser Klasse gibt es natürlich viele Unterschiede. Aber wir spielen einzelne Gruppen nicht gegeneinander aus, sondern binden ihre Interessen zusammen. Wenn es Angriffe gibt auf Bürgergeldempfänger oder auf Migranten, dann stehen wir für die genauso ein wie für den VW-Arbeiter, der Angst hat, dass sein Werk geschlossen wird. Wir verteidigen die Rechte aller arbeitenden Menschen.

Die Arbeiterklasse besteht aus 99 Prozent der Gesellschaft?

Wir meinen damit alle, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten - Angestellte, Selbstständige, Arbeiterinnen. Das ist für uns die arbeitende Klasse. Arbeiterinnen und Arbeiter im engeren Sinne sind ein Teil davon.

Haben Sie auch eine Idee entwickelt, um AfD-Anhänger für sich zu gewinnen?

Da geht es darum, diejenigen zu gewinnen, die vielleicht mal AfD wählen, aber eigentlich ganz andere Interessen haben. Im Kleinen haben wir das bei den Direktmandaten schon geschafft. Beatrix von Storch war absolut sicher, dass sie das Direktmandat in meinem Wahlkreis in Berlin-Lichtenberg gewinnen würde. Hat sie aber nicht.

Wie sind Sie das angegangen?

Wir haben in Lichtenberg bei 68.000 Haushalten geklingelt, gerade auch in Nachbarschaften, wo es viele Nichtwähler und potenzielle AfD-Wähler gibt. Wir sind mit Brot-und-Butter-Themen zu ihnen gegangen, mit ganz konkreten Hilfen: Sozialsprechstunden, Heizkostenchecks und anderen Angeboten. Ich habe immer gesagt: "Beatrix von Storch wird nicht an Ihre Tür klopfen, sie wird Ihnen auch nicht helfen, denn die AfD macht Politik gegen Ihre Interessen. Hier ist das Angebot der Linken."

Am Ende haben Sie das Direktmandat mit rund zwölf Punkten Vorsprung gewonnen.

Ich glaube, das ist auch eine Strategie, wie man die AfD im Großen schlagen kann. Nicht, indem man sich moralisch über sie erhebt. Das befördert nur ihren Opfermythos. Sondern, indem man klarmacht: Die AfD ist keine Arbeiterpartei, die vertreten nicht eure Interessen. Sie werden nicht dafür sorgen, dass es euch besser geht. Die Linke ist die Arbeiterpartei, wir helfen euch. So können wir die AfD schlagen. Aber das wird ein langer Prozess sein. Das funktioniert nicht bis zur nächsten Bundestagswahl, dafür ist die Propaganda der Rechten viel zu stark in den Köpfen der Menschen verankert.

Sie haben eine ziemlich sozialistische Biografie: Sie haben für eine marxistische Zeitschrift gearbeitet, Sie waren Mitgründerin und Chefredakteurin der deutschsprachigen Ausgabe der Zeitschrift "Jacobin" und sprechen ganz selbstverständlich von den Interessen der "Arbeiterklasse". Würden Sie in Bayern ein Referendariat bekommen?

Jetzt wahrscheinlich nicht mehr. Sie spielen mit Ihrer Frage auf die Genossin an, die Bayern nicht zum Referendariat für das Lehramt zugelassen wurde. Das erinnert an dunkle Zeiten der Geschichte der BRD, an die Zeiten der Berufsverbote. Eigentlich dachte ich, dass diese Form des Antikommunismus vorbei ist. Ich finde es einen beunruhigenden Umgang mit einer Frau, die nichts Anderes tut, als den Kapitalismus zu kritisieren. Das tun Heidi Reichinnek und ich auch.

Alle Parteien setzen für ihre politischen Pläne auf Wirtschaftswachstum. Sie auch?

Wir sind schon für Wirtschaftswachstum, aber im Interesse der arbeitenden Menschen. Für uns steht nicht das Wirtschaftswachstum an sich im Mittelpunkt, sondern die Frage, wer profitiert. In den letzten Jahren war es so, dass Preise und Mieten steigen und die Löhne stagnieren. Viele Leute haben immer weniger in der Tasche. Deshalb sagen wir: Wirtschaftswachstum muss gekoppelt sein an die Interessen der Beschäftigten und an die Notwendigkeiten der Transformation der Industrie in Richtung Klimaneutralität. Um die Automobilindustrie als Beispiel zu nehmen: Ich halte es für denkbar, dass der Staat Autohersteller unterstützt, wenn es nötig ist. Aber dann muss man das an Bedingungen knüpfen, beispielsweise an Jobgarantien für die Beschäftigten.

Die Linken waren bei der Bundestagswahl bei den unter 25-Jährigen die stärkste Partei - allerdings war die AfD die zweitstärkste Partei. Ist es nicht ein Problem für Staat und Gesellschaft, wenn junge Wählerinnen und Wähler sich vor allem in Extrempositionen wiederfinden? Ich weiß, die Formulierung werden Sie unfair finden.

Allerdings.

Dann sagen wir: außerhalb der politischen Mitte.

Die AfD setzt darauf, die Ängste von jungen Menschen zu instrumentalisieren. Wir sind das Gegenmodell. Und natürlich muss ich Ihnen widersprechen: Wir vertreten keine Extrempositionen. Die AfD ist extrem, weil sie menschenverachtend ist. Wir wollen die Aussicht auf eine solidarische Gesellschaft. Wir treten auf Tiktok mit DJ Gysi auf, nicht mit Hassreden oder Abschiebesongs.

Aber als Teil der politischen Mitte sehen Sie sich nicht.

Nein. Ich halte auch nichts von dieser ganzen Links-Rechts-Polarisierungserzählung, und in der Mitte ist dann die vermeintlich vernünftige Mitte. Ich würde sagen, es gibt auch eine radikale Mitte, die jetzt in der Koalition von Union und SPD ihr Sinnbild hat. Die radikalisierte Mitte, die den autoritären Umbau von staatlichen Institutionen vorantreibt. Mit Berufsverboten, der Einschränkung von Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit an den Universitäten, mit Kürzungspolitik oder damit, Wirtschaftslobbyisten ins Kabinett zu holen. Das ist für mich radikale Politik der Mitte. Die ist verantwortlich dafür, dass die Rechten stärker werden. Auch zu dieser radikalen Mitte sind wir der Gegenpol.

Mit Ines Schwerdtner sprach Hubertus Volmer

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