In einer Bergbaumine im Donbass explodiert ein Förderturm. Die Russen bringt das einen wichtigen Schritt nach vorn. Warum es für die Ukraine zugleich immer schwieriger wird, das Gelände um Pokrowsk gegen die Invasoren zu verteidigen, erklärt Oberst Markus Reisner ntv.de.
ntv.de: Herr Reisner, aus dem Donbass heißt es, der russische Vormarsch lasse etwas nach. Zugleich meldete die Ukraine am Wochenende 23 Sturmangriffe auf Pokrowsk, also auf den Ort, der momentan im Donbass am härtesten umkämpft ist. Wie kurz vor Pokrowsk stehen die Russen derzeit?
Markus Reisner: Die vordersten russischen Kräfte stehen fünf bis sechs Kilometer vor der Stadt. Der unmittelbare Vormarsch auf Pokrowsk hat im Moment tatsächlich etwas nachgelassen. Die Russen versuchen derzeit nicht, frontal voran zu marschieren, sondern über die Flanken zu kommen. Wir sehen daher heftige Kämpfe nordöstlich von Pokrowsk im Raum Torezk, während sich an zwei Orten im Süden der Stadt ein möglicher Kessel ankündigt, wo den ukrainischen Truppen ein Einschluss droht.
Der Vormarsch ist also nicht etwa verlangsamt, weil den Russen die Kräfte schwinden?
Nein, es wird weiterhin massiv gekämpft. Jeder Angriff der Russen lässt sich in mehrere Phasen unterteilen. Zunächst die Vorbereitungs-Phase. Hier setzen sie massiv Artillerie und Raketenwerfer ein, um die ukrainischen Stellungen abzunutzen. Verstärkt werden die Attacken durch Gleitbombeneinsätze, mit denen man versucht, ukrainische Stützpunkte fast völlig zu zerstören. In Phase 2 kommen leichte Kräfte zum Einsatz. Die russische Armee lässt kleine Gruppen an Infanterie oder Sturmtrupps vormarschieren.
Wortwörtlich "vormarschieren"? Also zu Fuß?
Die Soldaten laufen tatsächlich zu Fuß in kleinen Trupps, um ins Gelände einzusickern, oder auch mit Motorrädern, auf denen sie recht schnell sind und darum ein schwieriges Ziel für Drohnen darstellen. Wenn ständig zehntausend Drohnen in der Luft sind - einerseits zur Aufklärung, aber auch für den Angriff - würden Fahrzeuge, also Kampf- oder Schützenpanzer in Bewegung, sehr schnell erkannt. Auch weil sie in Fahrt viel Staub aufwirbeln. Darum nutzt man die leichten Kräfte, und wenn die es schaffen, weit vorzustoßen, dann lösen sie den Einsatz eines stärkeren Kampfelements aus.


Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: ntv.de)
Und das hat dann bessere Chancen durchzukommen?
Solche Einsätze erfolgen meist parallel, verteilt über mehrere Kilometer, und das ist dann Phase 3. Die parallelen Angriffe hindern die ukrainischen Verteidiger daran, ein Schwergewicht zu bilden. Sie sollen sich in der Abwehr dieser unterschiedlichen aber gleichzeitigen Angriffe möglichst verzetteln. Durch diese Taktik kommen die hohen Zahlen zustande, zum Beispiel die 23 Sturmangriffe in kurzer Zeit, die Sie eingangs genannt haben. Die gepanzerten Fahrzeuge können den kleinen erreichten Vorstoß der leichten Kräfte dann ausnutzen. So arbeiten sich die Russen vor, Schritt für Schritt.
Aber eben nicht direkt in Richtung Pokrowsk?
Wenn wir den Blick etwas weiten, sehen wir den Frontvorstoß östlich von Pokrowsk, den haben die russischen Truppen vor einigen Monaten geschafft, dort sind sie durchgebrochen.
Nun versuchen die Russen nicht, diesen besetzten Raum nach Westen Richtung Pokrowsk zu verlängern, sondern an den Flanken zu verbreitern?
Genau. An den Flanken, nördlich und südlich, versucht man, weitere Kräfte einzuführen. Im Nordosten bei Torezk wird sehr heftig gekämpft, das ist etwa 30 Kilometer von Pokrowsk entfernt. 20 Kilometer südöstlich der Stadt haben die Russen einen kleinen Kessel gebildet, er ist auf den aktuellen Lagekarten gut zu erkennen. Noch etwas weiter im Süden, rund um Wuhledar, ist es den Russen gelungen, zwei Bergbauminen einzunehmen. Auch dort droht den ukrainischen Truppen eine Einkesselung.
Wie wichtig sind denn diese eingenommenen Minen?
Sehr wichtig. Dort in der Region ist das Gelände extrem flach. Die einzigen Möglichkeiten, sich unbemerkt an den Feind anzunähern, sind aus Bäumen und Sträuchern bestehende vorhandene Windschutzgürtel oder kleine Gewässer. Aufgelockert wird das Gelände durch kleine Ortschaften, meistens angelehnt an Produktionsstätten der Kohleförderung oder ähnliches. Diese Minen haben den großen Vorteil, dass sie das umliegende Gebiet beherrschen. Einerseits durch den Erdaushub, der künstlich geschaffene Hügel bildet. Aber auch die Fördertürme sind nützlich. Das sind prominente Gebäude, von denen aus die Ukrainer das umliegende Gelände kontrollieren können.
Diese Möglichkeit haben sie nun bei Wuhledar also eingebüßt?
Noch nicht komplett. Die russische Seite hat gestern ein Video geteilt, das den Angriff auf eine Mine nordostwärts von Wuhledar zeigt. Mit Gleitbomben wird der Förderturm gesprengt, somit ist dieser Übersichtspunkt zerstört.
Die Russen können sich nun von einer Mine zur nächsten weiter vorarbeiten. Den Ukrainern wird es unmöglich werden, das Gelände wirksam zu verteidigen. Schließlich wird wohl auch Wuhledar fallen, das ist eine Bergbaustadt, in der viele Arbeiter aus den umliegenden Minen wohnten. Videos von der Front zeigen, wie Drohnen beider Seiten einzelne Fahrzeuge zerstören und Soldaten töten. Die lassen sich referenzieren. Das heißt, wir können den Angriff, der dort zu sehen ist, einem Ort zuweisen. Diese Referenzen der ukrainischen Videos zeigen: Die Russen kommen trotz aller Gegenwehr Schritt für Schritt voran. Die Angriffe, und damit auch die Frontlinie, wandern immer weiter Richtung Westen.
Wie ist die Lage im Raum Kursk, wo die Ukrainer jetzt schon seit mehreren Wochen russisches Gelände halten?
Dort sehen wir eine Art Katz- und Mausspiel. Im Vergleich mit der Situation im Donbass mit umgekehrter Rollenverteilung. Hier sind die Ukrainer in das russische Gebiet hinein vorgestoßen. Die Russen versuchen, die ukrainischen Truppen in den Flanken zu treffen und zurückzudrängen. Die Ukrainer wehren sich dagegen. Es geht vor und dann wieder zurück.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Wochenende erklärt, er könne nur vier von 14 Brigaden ausreichend ausrüsten. Wirkt sich das an allen Frontabschnitten aus?
Ja, das rächt sich bei den ukrainischen Abwehrmaßnahmen im Raum Kursk, aber auch im Donbass und im Raum Charkiw. Dort würde man kampfkräftige Verbände benötigen. Und es rächt sich auf strategischer Ebene. Im kommenden Jahr will die Ukraine wieder in die Offensive gehen. Dafür muss sie aber kampfkräftige Brigaden aufstellen, die Stoßkraft entwickeln können. Das ist nur möglich, wenn man mechanisierte Kräfte hat, also Kampfpanzer, Schützenpanzer, und dahinter entsprechende Artillerie. In der Sommer-Offensive 2023 ist aber sehr viel Material verbraucht und zerstört wurden. Auch von den in Folge eingesetzten 31 Abrams-Panzern, die aus den USA kamen, sind zum Beispiel etwa zwei Drittel zerstört oder beschädigt. Auch viele Leopard II wurden in der Offensive und den folgenden Abwehrkämpfen verloren
Es sollen in den kommenden Monaten bis zu 100 Leopard I geliefert werden. Wie weit kommt die Ukraine damit?
Verglichen mit dem Leopard II ist der Leopard I wesentlich schwächer. Seine Technik ist auf dem Niveau der russischen und ukrainischen Systeme aus den 1970er und 1980er Jahren mit punktuellen Verbesserungen. Will die Ukraine den derzeitigen Raum halten, braucht sie zumindest 300 Panzer. Will sie aber im Jahr 2025 Räume zurückerobern, braucht sie dafür mindestens 3.000 Panzer. Darum erklärt der ukrainische Präsident derzeit wiederholt: "Was wir bekommen, ist zu wenig." Schon jetzt zur Abwehr der russischen Angriffe und erst recht für die geplante Offensive im nächsten Jahr.
Selenskyj bittet zugleich schon seit Wochen mit Nachdruck, die weitreichenden Waffen aus dem Westen auch weitreichend einsetzen zu dürfen, also gegen feindliche Kommandostationen, Flugplätze, Infrastruktur auf russischem Gebiet. Lohnt sich die kontroverse Debatte? Hätte das einen spürbaren Effekt?
Laut Berichten aus den USA haben die Russen ihre Kampfflugzeuge bereits in Gebiete außerhalb der Reichweite etwa von ATACMS, den weitreichenden US-Raketen, verlagert. Sie hatten ja aufgrund der Länge dieser Diskussion auch reichlich Gelegenheit, sich vorzubereiten. Es bieten sich nun tatsächlich Angriffe gegen Führungs- und Kommandostände, Logistikzentren und Munitionslager an. Die ganze Debatte zeigt eine Uneinigkeit im Westen, die Russland nützt und die Russland auch benutzt. Der Kreml droht mit Atomwaffeneinsatz, baut noch weitere Drohkulissen auf und wirkt erfolgreich im Informationsraum. In der Zwischenzeit hat Russland alleine im letzten Monat über 4000 Gleitbomben, 300 Marschflugkörper und hunderte Drohnen gegen die Ukraine eingesetzt. Als Ergebnis sind, so Selenskyj, bereits 80 Prozent der kritischen Infrastruktur beschädigt oder zerstört.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer