Wer ein Blog oder ein Magazin, wie GNU/Linux.ch eines ist, betreibt, braucht früher oder später Regeln (Netiquette), um das gemeinsame Miteinander in guten Bahnen zu halten. Was "gut" bedeutet, entscheiden Gesetze, die Verantwortlichen und die Community selbst. Wir haben mit wenigen und offensichtlichen Regeln begonnen und diese bis heute auf 17 Regeln erweitert. Die Regeln haben sich chronologisch entwickelt; sie begannen mit a, b, c und wurden viel später mit o, p, q ergänzt.
Die Regeln gelten für alle Inhalte und alle Beitragenden und alle Medien-Formate, die von GNU/Linux.ch moderiert werden. Da Fehler menschlich sind, kommt es auch bei unserer Redaktion oder dem CORE-Team vor, dass wir gegen die eigenen Regeln verstossen. Sofern diese beanstandet werden, korrigieren wir unsere Fehler.
Die frühen Regeln muss man nicht erklären. Da geht es um menschenverachtende Inhalte, Verstoss gegen Gesetze und Hass und Hetze. Der Sinn und die Bedeutung von bestimmten Regeln erschliessen sich einem nicht sofort. Aus aktuellem Anlass möchte ich eine dieser "schwierigen" Regeln in diesem Artikel beleuchten. In den Kommentaren zu einem Artikel aus dieser Woche wurde gegen die Regel (m) des Toleranz-Paradoxons verstossen.
Die Regel m lautet:
Im Sinne des Toleranz-Paradoxons dulden wir keine intoleranten Äusserungen, die die Toleranz untergraben, indem sie sich als solche ausgeben. Beispiel: Wenn Personengruppen diskreditiert werden und dies mit Toleranz oder dem Anspruch auf freie Meinungsäusserung gerechtfertigt wird, dulden wir das nicht.
Diese Regel wurde von Lioh aufgenommen und bestand zuerst nur aus dem Namen "Toleranz-Paradoxon" mit einem Link dazu. Später habe ich die Regel ausformuliert, um sie verständlicher zu machen. Ob sie nun verständlich genug ist, überlasse ich eurem Urteil.
In den Kommentaren zum erwähnten Artikel finden sich viele aktuelle und praktische Beispiele zum Toleranz-Paradoxon. Anstatt den Kommentierenden hier zu nennen, möchte ich lieber die bemerkenswerte Entgegnung von Naja (teilweise) zitieren:
Deine Anarchismus-Träume scheitern leider am Toleranz-Paradoxon ("Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen" Karl Popper). Sieht man ja schön in den USA, wo die angeblich libertären jetzt alles abschaffen wollen, dass ihnen nicht passt. Sehr freiheitlich kommt mir das nicht vor.
Naja zitiert darin den Philosophen Karl Popper, der das Paradoxon zuerst 1945 in seinem Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" beschrieben hat. Wer sich zum Toleranz-Paradoxon informiert, stösst schnell an Grenzen. Zumeist werden die Argumente von Popper wiederholt, ohne dass man griffige Beispiele findet. Daher versuche ich, das nachzuholen.
Was bedeutet Toleranz? Ha, es gibt fast nichts, was es bei GNU/Linux.ch nicht gibt. Zur Bedeutung der Toleranz habe ich mit Christian Müller-Zieroth im September 2024 eine Podcastfolge aufgenommen. Dort definieren wir:
Toleranz, auch Duldsamkeit, bezeichnet ein Gewährenlassen und Geltenlassen anderer oder fremder Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten. Umgangssprachlich meint man damit häufig auch die Anerkennung einer Gleichberechtigung, die aber über den eigentlichen Begriff („Duldung“) hinausgeht. Toleranz bezieht sich auf die Fähigkeit, Meinungen, Praktiken oder Verhaltensweisen zu ertragen, die von den eigenen abweichen.
Im Podcast differenzieren wir zwischen Toleranz und Akzeptanz, doch dieses Fass möchte ich jetzt nicht wieder aufmachen.
Der springende Punkt beim Toleranz-Paradoxon sind die Grenzen der Toleranz. Wäre Toleranz grenzenlos, würde sie sich selbst ad absurdum führen: "Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz". Wie funktioniert das?
Stellen wir uns eine sehr tolerante Gesellschaft vor. Diese Gesellschaft erlaubt auch intoleranten Gruppen, ihre Meinung zu äussern. Wenn die intoleranten Gruppen zu stark werden, könnten sie die Toleranz in der Gesellschaft abschaffen. Was ist die Lösung? Um tolerant zu bleiben, muss eine Gesellschaft paradoxerweise Grenzen setzen: Sie sollte offen für verschiedene Meinungen sein. Aber sie muss sich auch gegen extreme Intoleranz wehren können.
Beispiel: Die in Teilen als gesichert rechtsextremistisch eingestufte deutsche Partei AfD verwendet häufig intolerante Narrative unter dem Deckmantel der Toleranz. Damit verlangen sie eine Toleranz gegenüber intoleranten Inhalten und überschreiten somit die Grenzen der Toleranz.
Titelbild: https://pixabay.com/illustrations/penrose-triangle-escher-3d-octane-6948661/ (bearbeitet)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Toleranz-Paradoxon
GNU/Linux.ch ist ein Community-Projekt. Bei uns kannst du nicht nur mitlesen, sondern auch selbst aktiv werden. Wir freuen uns, wenn du mit uns über die Artikel in unseren Chat-Gruppen oder im Fediverse diskutierst. Auch du selbst kannst Autor werden. Reiche uns deinen Artikelvorschlag über das Formular auf unserer Webseite ein.